«Mich interessiert nur noch, was mir Angst macht»
Gespräch mit Ulrich Seidler
FRAGE: Herr Oberender, womit haben Ihre Mitarbeiter Sie beworfen, als Sie ihnen von Ihrer grandiosen Schnapsidee erzählten, dass Sie das ICC mit einem Kunstfestival bespielen wollen?
ANTWORT: Das ist jetzt mehr als ein Jahr her, als wir den 70. Geburtstag der Festspiele planten. Wir wussten, dass das Festspielhaus eine Baustelle ist, also wohin? Dazu kam die Corona-Epidemie. Wir fragten uns, ob es in Berlin einen Ort gibt, der groß genug ist, dass man ihn nicht schließen muss, egal wie hoch die Inzidenzwerte sind. Da kam mir das ICC in den Sinn. Niemand hat mich mit irgendwas beworfen, alle fanden es sofort toll. Auch im eigenen Betrieb, obwohl wir ja alle permanent am Burnout vorbeischrammen. Und auch die Messe Berlin. Wir hatten keinen, der blockiert hat.
FRAGE: Wieso ist das Gebäude eigentlich nicht in Betrieb?
ANTWORT: Es gibt keine wirtschaftlichen Konzepte mehr für diese Blüte des Kalten Krieges. Wer braucht jeden Abend 8000 Plätze? Der Investitionsrückstau wird auf 300 Millionen Euro geschätzt. Man kann keinen eisernen Vorhang mehr fahren, kein Lautsprecher funktioniert mehr. Auch die Lichtanlage und die Rolltreppen haben keine Betriebsgenehmigung, wir bringen unsere Technik mit, installieren sogar ein Belüftungssystem, damit das Ganze coronakonform ist. Das Hauptproblem ist, dass es keine Spielstättengenehmigung gibt, eigentlich ist das ICC für Publikum gesperrt. Es war einmal das teuerste und futuristischste Gebäude Deutschlands, es hat 1979 ein Milliarde D-Mark gekostet, der große Saal verfügt über 5000 Plätze, der kleine ist so groß wie die Philharmonie mit 2500 Plätzen. Und jeder Platz verfügt über einen Aschenbecher, eine Leselampe und einen Achtkanalton-Anschluss. Ich glaube, dass das Gebäude schon 1989, mit der Öffnung der Mauer, aus der Zeit gefallen ist. Deswegen ist es für uns als Zeit- und Raumschiff so geeignet.
FRAGE: Als Sonnenmaschine, die in der Stadt landet. Ist es die Sun Machine aus David Bowies Song «Memory Of A Free Festival»?
ANTWORT: Genau. Ich liebe dieses Lied: The sun machine is coming down, and we‘re gonna have a party.
FRAGE: Ein bisschen klingt es auch nach Sonnenuntergangsstimmung. Sie gehen Ende des Jahres, zelebrieren Sie mit dem Kunstfestival schon einmal ein bisschen Ihren Abschied?
ANTWORT: So ist es nicht gedacht, um Gotteswillen. Die Idee ist älter als meine Entscheidung, nicht zu verlängern.
FRAGE: Wenn das Gebäude die Hauptrolle spielt, stiehlt es den einzelnen Künstlern nicht die Show?
ANTWORT: Im Gegenteil, es erleichtert für viele Leute das Sichtbarwerden. Das Gebäude schafft eine andere Energie, es ist das Gegenteil von social distancing – ein Ort der Verwandlung, in dieser Dornröschenwelt wirkt alles wie eine Intervention.
FRAGE: Besonders sichtbar wird der Veranstalter. Wollen Sie lieber ein Künstler sein?
ANTWORT: Ich habe als Künstler gearbeitet, das ist etwas her. In meiner Arbeit als Kurator hat sich später eine Arbeitsweise herauskristallisiert, die die Schaffung von großen Modulsystemen ermöglicht und an klassischen Institutionen sehr ungewöhnliche Veranstaltungsformen in Gang setzt. Wir bauen aus dem ICC einen Organismus, der unterschiedliche Herzen hat. Das war im «Palast der Republik» im Festspielhaus so, und auch bei großen Formaten wie «Welt ohne Außen» und «Down to Earth» im Gropius Bau – das sind Mischungen aus Ausstellung, Festival und Themen-Summit. Im ICC haben wir z.B. das «Triebwerk» Großer Saal, für den wir die Julia-Stoschek-Collection gewinnen konnten. In diesem irrsinnigen Saal dachte ich, o.k., das ist perfekt für die Filme von Arthur Jafa. Denn die haben die Kraft und Relevanz, die man hier braucht. Auch der von Martin Hossbach kuratierte Konzertsaal ist eine Maschine, die zehn Tage durchläuft. Die Musiker kommen mit ihren Laptops und nutzen den rohen Raum wie er ist: kein Bandaufbau, kein Showlicht, nichts. Wir müssen ein System kreieren, das die ganze Zeit sendet, ohne ständiges Auf- und Abbauen und das den Leuten, die mitmachen, Freude bereitet, weil sie sich einbetten können in etwas, das an sich schon interessant ist und viel Kraft gibt. DAU war meine große Schule. Und wird ja auch hier zu sehen sein. Ich reise ins ICC ein wie in ein anderes Land. Ich löse kein Ticket für eine Vorstellung, sondern ich kriege dreieinhalb Stunden Aufenthaltszeit in diesem fremden Land. Im Grunde ist es ein großes Geschenk, dass das Festspielhaus zu ist, sonst dürften wir hier gar nicht rein.
FRAGE: Hatten Sie nach dem Scheitern von DAU nicht erst einmal die Nase voll von solchen großen Projekten und Genehmigungskämpfen?
ANTWORT: Daran knabbere ich noch heute. Nicht auf der persönlichen Ebene, nein, man kann auch mal ein Spiel verlieren. Aber DAU ist eins der größten und bedeutendsten Kunstwerke unserer Zeit, es ist vielschichtig, ambivalent und irritierend. Dass es letztlich gemeuchelt wurde, macht mich heute noch traurig.
FRAGE: Gemeuchelt? Ist es nicht an sich selbst gescheitert?
ANTWORT: Nein. DAU wurde in Berlin getötet. Erst vor drei Wochen habe ich erfahren, dass die Genehmigungen vom Verkehrsamt Berlin damals doch noch erteilt wurden, aber da war das Projekt bereits in Paris. Drei Millionen Euro Sponsorenmittel wurden angesichts vieler Beteuerungen am Ende in den Sand gesetzt. Das blutet noch immer.
FRAGE: Also, wir halten fest. DAU ist gescheitert, und Sie haben nichts besseres vor, als bei nächster Gelegenheit die größte Veranstaltungsimmobilie der Stadt zu entmotten?
ANTWORT: Na ja, ich bin nicht auf der Jagd nach Rekorden. Sondern ich kämpfe für bestimmte künstlerische Projekte. Wir haben auch das Nationaltheater Reinickendorf für Vinge/Müller in sechs Monaten in einer leeren Munitionsfabrik aufgebaut, freestylemäßig.
FRAGE: Das hat hinter den Kulissen ganz schön geknirscht. Die Leute haben über die Arbeitsbedingungen geklagt.
ANTWORT: Ja, das war herausfordernd, das stimmt. Für die Künstler Vinge und Müller gibt es kaum einen Unterschied zwischen den Leuten die auf und die hinter der Bühne stehen. Das ist ein Ensemble: Technik, Sound, Licht, Performer. Hinzu kommt unser Support mit eigenen Technikern und Meistern, allem. Bei der Synchronisation zwischen dieser radikalen Projektwelt und der sehr regulierten Institution knirscht es dann eben gelegentlich.
FRAGE: Was ist Ihre Rolle dabei?
ANTWORT: Ich bin die Kupplung.
FRAGE: Wenn man Sie so hört, wundert man sich, dass Sie sich im Juni nach dem ausverhandelten Verlängerungsvertrag bis 2026 doch gegen die Festspiele entschieden haben und Ende des Jahres aufhören.
ANTWORT: Ich bin jetzt 55. Ich habe lange nach einer Nachfolgeidee für die von mir 2015 initiierte Programmreihe «Immersion» gesucht. Manchmal muss man Geduld haben, dann kommen die Ideen, und manchmal merkt man nicht gleich, dass man schon begonnen hat, sich zu trennen. Durch die späte Vertragsverlängerung habe ich den Moment für entscheidende Weichenstellungen verpasst. Und persönlich habe auch ich mich in eine Richtung entwickelt, die vielleicht nicht der des Betriebes entspricht. Ich finde es jetzt besser, einen Schritt zur Seite zu gehen. Es ist kein leichter Schritt. Auch weil sich unser komplettes Immersions-Team, das wir nur befristet auf einer Projektebene beschäftigen konnten, zum Jahresende auflöst. Zwölf Leute, viele sind schon weg – Kollegen und Kolleginnen, die im Laufe der Jahre Allrounder und eine Arbeitsfamilie geworden sind, die ihresgleichen sucht.
FRAGE: Kann es sein, dass das Kerngeschäft der Festspiele, die alljährlich, unter eigener Leitung stattfindenden Festivals – Theatertreffen, das Jazz-, das Musikfest, die Maerzmusik – den Intendanten ein bisschen langweilen?
ANTWORT: Zehn Jahre immer wieder fünf Festival, vier Bundeswettbewerbe und viele Ausstellungen mit Reden und Statements zu eröffnen, das hat schon Momente von «Und täglich grüßt das Murmeltier». Die Festspiele, die Festivals, die Ausstellungen – das sind Instrumente. Wofür möchte ich sie nutzen? Was braucht die Gesellschaft – wofür nutze ich meine Stimme? Das sind für mich zentrale Fragen. Ich möchte glaubwürdig bleiben, wie andere Kollegen am Haus auch – ich habe viel von Frie Leysen oder Berno Odo Polzer gelernt. Was Sie «Kerngeschäft» nennen, ist ja nur eine Möglichkeit unter vielen. Ich wollte irgendwann mehr produzieren und andere Sachen ausprobieren. Das ist unser Kerngeschäft.
FRAGE: War das Ihr Plan?
ANTWORT: Ursprünglich nicht unbedingt. Zu Beginn war ich überfordert. Der Betrieb hat mir immer diese schwarzen Mappen zur Unterschrift zugeschoben. Aber ich wollte auf keinen Fall nur Urlaubsscheine ausstellen und die Budgets überwachen, sondern Programm machen. Nur war das nicht vorgesehen. Ich habe mir aus Verzweiflung an manchen Tagen einen Schlips umgebunden, aber das hat nicht geholfen. Und dann ging uns das Geld aus, im Martin Gropius Bau wurden nur noch einmal pro Woche die Räume gefegt und das von mir initiierte Festival «Foreign Affairs» drohte zur Biennale zu werden, ein Tod auf Raten, das hatte ich beim «in transit» Festival am HKW gesehen. Und plötzlich musste ich etwas erfinden – neues Geld gibt es nur für neue Ideen. In dieser Situation traf ich auf einen neugierigen Haushälter im Bundestag, der mich fragte: Was ist Ihre innovativste Idee? Das hatte mich bis dahin noch niemand gefragt, absolut niemand. Und da sagte ich: Immersion. Und plötzlich fand ich Unterstützung. Rüdiger Kruse sei Dank. So konnte ich am Gropius Bau sechs große Ausstellungen und Projekte wie Vinge/Müller, Taylor Mac, den «Palast der Republik», Mona El Gamals «Rhizomat», Susanne Kennedys «Orfeo» im Gropius Bau oder der «Mondparsifal» mit Jonathan Meese produzieren. Im Nebeneffekt atmeten viele Kollegen auf, weil sie spürten, von mir geht keine Gefahr mehr aus, weil ich beschäftigt war. Und alle waren im Glück.
FRAGE: Wie schafft man es, dass die Leute dabei bleiben, wenn man ein System stresst?
ANTWORT: Ich finde, dass die Festspiele nie ein Betrieb geworden sind. Unter meiner Leitung jedenfalls nicht. Für viele meiner Kollegen war ich eine Art Hauptstadtkulturfonds, bei dem man sich sein Budget abholt und beschwert, dass es zu klein ist. Das ist menschlich, aber so entstand keine übergreifende Festspiel-Identität. Andererseits würde ich es nicht anständig finden, in den Programmen anderer Kuratoren und Kuratorinnen meine Ideen durchzuboxen. Nach der Berufung habe ich jedem 100 Prozent Freiheit gelassen und sie verteidigt, auch bei Misserfolgen. Ursprünglich hatte ich gehofft, aus unserer unterschiedlichen Kompetenz heraus eine große Kraft zu generieren. Das ist uns selten gelungen. Um auf Ihre Frage zu antworten: Man muss Anerkennung vermitteln und Verantwortung abgeben. Ich bin ein Kontrollfreak – beides fällt mir sehr schwer, aber da, wo ich Vertrauen spüre, auch sehr leicht. Seit Jahren arbeite ich in großen kuratorischen Teams und schaffe anderen Talenten wirklich Raum. In meinem Umfeld sind viele Menschen von Assistentinnen zu Direktorinnen oder Projektleiterinnen geworden. Aber ich will keine Ratschläge erteilen, ich weiß es selbst nicht. Es muss jedenfalls Freude machen.
FRAGE: Wir verlieren mit Ihnen einen der wenigen in der DDR sozialisierten Funktionsträger im Kulturleben. Ist das noch ein Thema?
ANTWORT: Ich schreibe Bücher und Essays darüber, ohne meine Arbeit auf das Thema zu verengen. Und bin auch ein Stück weit traurig, weil es, so empfinde ich es, wahrscheinlich sinnlos ist. Die Leute hören zu, nicken und es ändert sich nur wenig. Dieses tief eingeborene Superioritätsgefühl der Mehrheitsgesellschaft ist hart wie Granit. Die betriebstüchtigen Menschen schauen, was in London läuft und diskutieren, ob ihre Email-Signatur genderkorrekt ist. De facto reproduzieren sie den status quo und machen weiter mit der Geschichtsentsorgung des Ostens. Das macht die Ausstellung «The Cool and the cold» von Brigitte Franzen über die Kunst des Kalten Krieges im Gropius Bau zu einer so bedeutenden Ausnahme – hier steht die Moderne des Ostens der des Westens auf Augenhöhe gegenüber und wird zu gleichen Teilen repräsentiert. Das ist wirklich wegweisend.
FRAGE: Wie geht es bei Ihnen weiter? Wollen Sie überhaupt einen neuen Posten bekleiden?
ANTWORT: Ich will mit Leuten arbeiten, die ich mag und die mich überfordern. Das ist romantisch gesprochen, einerseits. Andererseits interessieren mich nur noch Sachen, die mir Angst machen. Wie das ICC. Mein Wunsch ist, dass ich mit den Erfahrungen, die ich gemacht habe, und mit den Künstlerinnen und Künstlern, die ich hier ins Herz geschlossen habe, denen ich vertraue und die mir vertrauen, den nächsten Schritt machen kann. Dafür suche ich wieder ein Raumschiff.
Website «The Sun Machine Is Coming Down» Berliner Festspiele
Stephan Becker: «Festival zeigt mögliche Zukunft des ICC Berlin», BauNetz, 8.10.2021