«Die Erfindung der Freiheit»
Die Serie von Veranstaltungen unter dem Titel «Die Erfindung der Freiheit» fand im Rahmen des «Odysee Europa»-Programms zur Kulturhauptstadt Europas statt. An sechs Theatern des Ruhrgebietes wurden Bearbeitungen von Homers «Odysee» durch unterschiedliche zeitgenössische Autoren in Auftrag gegeben. Die Reihe «Die Erfindung der Freiheit» knüpfte bereits vorab ein Band zwischen diesen Häusern indem sie ihrerseits eine Reise durch die europäische Geistesgeschichte begann, die das Publikum von einem Ort zum anderen führte.
Ist Freiheit nicht ein naturgegebener Zustand, der zwar verloren gehen kann, aber doch zumindest nicht erfunden werden musste? Das Konzept der Reihe folgte einem Gedanken des Althistorikers Christian Meier, der festhielt, dass die Griechen ihre Kultur, anders als im Orient, «nicht vom Gedanken der Herrschaft - sei es Monarchie, sei es kräftig disziplinierte Aristokratie -, sondern as Freiheit oder um der Freiheit willen ausbildeten.» Mit der griechischen Kultur entstanden die großen Leistungen und auch die bis heute virulenten Probleme einer Gesellschaft, «deren Mitglieder frei und eigenständig sein wollten, nicht abhängig, auch nicht durch andere vertreten, sondern unmittelbar einer zum anderen.»
Die Reihe folgte den Spuren Odysseus als eines Mannes, der tricksterhaft und tückisch war, und dessen Verlorengehen, dessen sein sich Verlaufen im Sinne Peter Handkes ihn immer weiter führte. Er ging auf eine Irrfahrt, statt sich am Irrsinn vor Troja zu beteiligen. Über ihn und seine Nachfahren von Kapitän Nemo bis James Joyce und Stanley Kubrick sprachen Peter Sloterdijk, Kurt Flasch, Oskar Negt, Kurt Steinmann, Mark Terkessidis, Navid Kermani und Jonathan Meese.
«Als ob hier Kirkes und Kalypsos Lieder nie verstummen»
Interview zu «Die Erfindung der Freiheit» im Rahmen der «Odyssee Europa»
K.WEST: Die «Odyssee Europa» ist eines der zentralen Schauspiel-Ereignisse der Kulturhauptstadt Essen/Ruhrgebiet. Nun kann es nie falsch sein, sich an Säulen anzulehnen, deren Fundament die Götter selbst gelegt haben. Doch bei der Treue der unbestechlichen Penelope gefragt: Was hat das profane Ruhrgebiet des 21. Jahrhunderts mit den Irrfahrten des Königs von Ithaka vor 2.800 Jahren zu tun?
Es waren in den letzten hundert Jahren sicher nicht die Könige, die im Ruhrgebiet gestrandet sind, sondern Menschen, die Arbeit suchten. Odysseus war ein unfreiwilliger Migrant, jemand, den es wider Willen in die Ferne verschlagen hat und der selber verschlagen war, listenreich und vielgewandt. Er strandet bei den Kikonen, Lotophagen und Kyklopen, beim Windgott Aiolos, bei den menschenfressenden Laistrygonen, rettet sich zur Zauberin Kirke, die ihn in den Hades schickt, wonach er an den Seeungeheuern Skylla und Charybdis vorübersegeln muss, um schließlich auf der Insel des Sonnengottes Helios die letzten Kameraden zu verlieren, es folgen sieben Jahre bei der Nymphe Kalypso, bevor ihn eine schöne Königstochter der Phaiaken zurück nach Ithaka reisen lässt.
Aber eben nicht ins Ruhrgebiet…
Dass es im Kulturhauptstadtjahr ein Projekt wie «Odyssee Europa» gibt, war aber eine Idee der Theaterleute des Ruhrgebiets – einer Region, di sich durch eine gewisse Unübersichtlichkeit auszeichnet. Das Ruhrgebiet ist etwas Künstliches und Reales zugleich, ein Großraum, der einen ständig mit der Frage nach Herkunft und Heimat konfrontiert und in dessen Autobahngewirr, Verkehrsverbund und Ineinanderfließen von Vororten, Siedlungen und Industrie- und Gewerbegebieten man wie Odysseus leicht verloren gehen kann. Aber der zugleich wie keine andere Region Deutschlands zum Bleiben verführt, und sich durch einen ganz besonderen Stoffwechsel zwischen dem Eigenen und der Welt auszeichnet. Es ist das Land der Riesen und Einäugigen, der Ort, an dem die Lotosesser von verbotenen Früchten essen und die Erinnerung an die Vergangenheit und Heimat verlieren, die Unterwelt, aus der die Rückkehr fraglich ist – es bedarf nur einer leichten Verschiebung der Perspektive, und wir sind mittendrin.
Klingt Ihre Beschreibung nicht eher nach Großstädten wie Berlin, New York oder London? Das Ruhrgebiet ist doch eher das Gegenteil dieser Orte, in denen man die Fremde sucht und Fremder wird und doch geborgen ist in den anonymen Meereswellen der Metropole.
Im Grunde sind diese versprengten Weltteile, die Odysseus durchreist, in dieser Region Ruhrgebiet ineinander geraten. Aber anders als etwa in New York. Die Inseln, die in der Odyssee in einem großen Meer verteilt sind, trennen im Ruhrgebiet ein paar S-Bahn-Stationen. Die Phaiaken sind Oberhausener, die Lotophagen Gelsenkirchener, man fühlt sich nicht als New Yorker oder Berliner, deren Identität das Ganze ist. Und noch etwas ist anders: Wie Odysseus war man im Ruhrgebiet den Elementen immer sehr nah – der Kohle, dem Feuer, dem Rauch. Und die damit verbundenen Schicksalsschläge, die Stürme, in die Odysseus gerät, die Zechen- oder Werksschließungen etwa, haben hier eine nacktere Realität als in Berlin oder London. Aber ich will den Vergleich auch nicht überstrapazieren. Was mich im Ruhrgebiet immer fasziniert hat: Wer hier geboren wurde, arbeitet, studiert und verliebt sich hier und bleibt. Die meisten Menschen bleiben. Es ist, als ob Kirkes und Kalypsos Lieder hier nie verstummen. Man bleibt. Seit Generationen verschmilzt hier etwas, unter pragmatischen Umständen, kreiert einen eigenen Dialekt und Lebenstüchtigkeit. Das ist natürlich Teil des Klischeebilds vom Ruhrgebiet. Aber denken sie an die Romane von Ralf Rothmann, an die Träume, Anarchie, das brutale Nebeneinander von Armut und Wut, Lebenshunger und Suff, Fleiß und Enge, Kameradschaft, Kraft und Trostlosigkeit. Da finden Sie den Hades und auch die Sirenen, und das ganze Licht und Elend des Lebens, von dem die «Odyssee» berichtet. Das dieses globale Dorf Kulturhauptstadt wurde, ist schon ganz richtig.
Sie verantworten zwar nicht die Grundidee, aber eine Vortragsreihe vor Beginn der «Odyssee Europa», in der so namhafte Geistesgrößen wie Peter Sloterdijk, Navid Kermani oder Oskar Negt sich damit auseinandersetzen, was die Odyssee heute für uns bedeutet. Was ist das bisherige Resümee?
Die eingeladenen Gäste standen auf der Wunschliste der Dramaturgen und stehen im Zusammenhang mit den Autoren, die von den Theatern mit der Bearbeitung der «Odyssee» beauftragt wurden. Ich bin eher so etwas wie das rote Band zwischen den einzelnen Veranstaltungen. Zwar kenne ich die meisten Vortragenden aus früheren Zusammenhängen, aber was sie zur «Odyssee» sagen, erfahre ich auch erst am Tag der Veranstaltung. Ich bereite mich also vor und recherchiere, doch dann springe ich ins kalte Wasser und improvisiere für das Publikum. Das Resümee ist: Jeder Abend eröffnet eine Welt. So war Peter Sloterdijks Vortrag nicht nur eine äußerst anregende Reflexion der Figur des Odysseus als Pilotfigur der Sophisten, die tatsächlich am Ursprung der Philosophiegeschichte steht, sondern auch eine sinnliche 90-Minuten-Performance, bei der man seine Worte wie Musik erlebt hat. Mark Terkessidis sprach in Moers über das Phänomen des Reisens und die Konstruktion von Identität im Hinblick auf unsere Begegnung mit dem Fremden im Tourismus oder bei der «Erfindung» des modernen Griechenland – «Interkulturalität» ist ein erhellender Begriff, den ich aus diesem Gespräch mitnehme. Und ganz ähnlich stand auch in der Begegnung mit Navid Kermani eine bestimmte Form von Moralität im Mittelpunkt der Debatte: Wie gehen wir mit der Andersartigkeit des Islams um? Ist die Idee der Integration nicht schon an sich eine, die auf der Trennung zwischen «wir» und «ihnen» beruht? Und welche Transformationskraft besitzt eine Religion wie der Islam? Am Rande dieser Gespräche wurde auch deutlich, dass das Ruhrgebiet, aber auch eine Stadt wie Köln oder Deutschland insgesamt, nicht mehr nach dem alten Prinzip des melting pot funktionieren, sondern, in der Sprache der Soziologen, längst einer salad bowl gleichen – also sozialen Gebilden, in denen das Disparate eher nebeneinander existiert, als dass es sich vermischt und etwas einheitlich Neues ergibt. Dieser Vorgang wird politisch und sozial sicher eine zentrale Herausforderung der Zukunft dieses Landes sein.
Der Titel dieser Reihe, «Die Erfindung der Freiheit», ist aber eine Erfindung von Ihnen und formuliert eine Perspektive, das diesen Vorträgen ein übergeordnetes Thema verleiht. Kann man die Freiheit wirklich erfinden?
Das ist eine gewagte Behauptung, aber im Hinblick auf die «Odyssee» sehr zutreffend. Das Problem der Freiheit geht uns alle an. Und Homers Epen bringen erstmals eine Art zu leben und die Welt zu betrachten zum Ausdruck, die vom Gedanken der Freiheit ausgeht. Das hat, wenn Sie so wollen, Homer der Welt geschenkt. Der Althistoriker Gerhard Meier hat das sehr schön formuliert: Die Griechen haben ihre Kultur nicht vom Gedanken der Herrschaft her – sei es Monarchie, sei es eine kräftig disziplinierte Aristokratie –, sondern aus Freiheit oder um der Freiheit willen ausgebildet. Es gab keine Herrschaftssicherung durch mächtige Priesterschaften, sondern eine Gesellschaft, deren Mitglieder frei und eigenständig sein wollten. Und all die daraus resultierenden Probleme, wie man mit Konflikten umgeht, sie ausbalanciert und, da es an höherer Autorität hapert, anfängt, die eigene Welt in Frage zu stellen und zur Sache der intellektuellen Argumentation zu machen, all dies führte zur «freien Kultur der Griechen», und Homer hat es in seinen Epen auf eine ganz neue und folgenreiche Weise zum Ausdruck gebracht. Das schien mir ein guter Schlüssel zu sein, um das Problem der Freiheit in der Gegenwart zu reflektieren.
Kennen Sie die Stücke, die aus Motiven der Odyssee des Homer jetzt neu entstanden sind, bereits?
Bis auf das Stück von Enda Walsh habe ich inzwischen alle Texte gelesen und bin sehr beeindruckt, jedes ist sprachlich und thematisch ein Kosmos für sich. Péter Nádas hat mich sehr beeindruckt. Und Grzegorz Jarzyna ist Regisseur, daher spürt man sofort, dass er mit dem Stück zugleich eine Aufführung schreibt, ganz ähnlich wie Roland Schimmelpfennig, dessen «Elfter Gesang» für mich ein Jahrhundertstück geworden ist. Roland Schimmelpfennig ist in meinen Augen der einzige Autor seit Botho Strauß, der von den Innovationen des Regietheaters gelernt hat und inzwischen große, für sich stehende Literatur schreibt. Der «Elfte Gesang» ist ein Meisterwerk, etwas, für das sich der ganze Aufwand dieser Reihe schon jetzt gelohnt hat. Natürlich weiß man nicht, wie die Uraufführungen werden, das ist ja leider immer so am Theater, aber dieser Text wird durch die Zeit gehen.
Gezeigt werden sämtliche Dramen hintereinander, auf einer zweitägigen Theaterreise durchs Revier. Eine «Reise durch die Zwischenwelt» wird angekündigt. Welche sinistren Orte sind da gemeint?
Marietta Piekenbrock, die künstlerische Leiterin des Programms, hat sehr früh gespürt, dass diese in jeder Hinsicht disparaten Veranstaltungen einen Rahmen brauchen. Das ist im Vorfeld die Vortragsreihe, und zudem hatte sie die sehr schöne Idee, ein Künstlerkollektiv aus Berlin zu beauftragen, das um diese Aufführungen herum so etwas wie eine weitere, sie verbindende Inszenierung schafft – das ist die Idee der «Reise in die Zwischenwelt». Die sehr sympathische Idee der Künstler von «raumlabor» ist, dass im Mittelpunkt von Homers «Odyssee» die Idee der Gastfreundschaft steht. Und etwas in dieser Art können auch die Teilnehmer an der «Odyssee Europa» erleben, denn für jeden Besucher haben die Künstler von «raumlabor» unter den Bewohnern in Essen, Moers, Oberhausen, Mülheim, Bochum und Dortmund einen Paten oder Gastgeber gesucht. So verwandeln sich um die vierhundert Menschen in jeder Stadt zu Reiseführern der Extraklasse, die den Besuchern zwischen den Aufführungen besondere Orte ihrer Heimat zeigen. Das ist ein verrücktes Abenteuer und soziales Projekt voller Charme und Risiko. Was auf dieser großen Klassenfahrt der Theaterfreunde zum Vorschein kommt, wird also hoffentlich nicht sinister sein. Doch es hat viel mit der «Odyssee» zu tun, mit einer Reise, die sich nicht restlos planen lässt, und die Empfindung der eigenen Gegenwart und Welt steigert. Hoffentlich, man weiß es natürlich nie. Aber die Idee ist bezaubernd.
(K-West, 18.1.2010)