Die Berliner Festspiele starten ein neues Format, das seinen Auftakt im Herbst 2016 hat und vornehmlich im Haus der Berliner Festspiele und im Martin-Gropius-Bau stattfindet. Ziel ist nicht ein Festival, das sein Format erfüllen muss, sondern um Künstler herum Formate zu entwickeln, die eine Präsentation von Werken ermöglicht, die aus der Routine des Festival- Ausstellungs- oder Repertoirebetriebs ausbrechen. In dem auf drei Jahre angelegten Programm «Immersion. Analoge Künste im digitalen Zeitalter» werden in regelmäßiger Folge künstlerische Arbeiten zur Aufführung und Ausstellung gebracht – als Performance oder Skulptur, Choreografie, Virtual Reality Experience oder Narrative Space. Wir beginnen Mitte Oktober mit der Frage: Wie, seit wann und durch was verändert sich künstlerische Produktion unter dem Eindruck der Digitalisierung? Lässt sich die konventionelle Trennung der Welt in digital und analog überhaupt noch aufrechterhalten? Fangen wir mit der Beerdigung eines alten Zeitalters an?
Immersiv sind ästhetische Phänomene, wenn man dem Kunstwerk nicht mehr gegenüber steht, sondern in das Werk eintritt. Das Programm stellt zunächst tatsächlich Werk vor, die in der «realen» Welt mit «analogen» Dingen geschaffen werden – als Aufführungen von Räumen, choreografierte Führungen durch imaginäre Welten oder eine Ausstellung im Grenzbereich des Formats. Die Besucher*innen schauen hier nicht auf das Werk, sondern werden in ihrer Anwesenheit bewusst wahrgenommen und zum «passiv-aktiven» Teil der Arbeit: Immersive Kunst ist keine neue Variante von Mitspieltheater, doch das Publikum tritt in Mitte des Werkes, denn in diesen künstlichen und künstlerischen Welten dreht sich alles nur um die Gäste. Somit verändert sich die Rolle der Besucher*innen – von der distanzierten Beobachtung zur situativen Koproduktion eines Kunstwerks. Das Trägermedium scheint in dem Augenblick zu verschwinden, da man in das Werk eintaucht und es einen wie eine neue, unbekannte Welt ummantelt. Tendenziell entstehen so Welten ohne außen: Stets erfassen immersive Werke die Totalität des erlebten Raumes und nicht nur den Teilbereich einer Bühne. Durch diese spezifische Rezeptionssituation wird der Affekt zu einer zentralen Erlebniskategorie. Solch bewußt auf eine dauerhaft immersiven Situation angelegten Kunstwerke finden sich im Theater, der Musik, der Bildenden Kunst und vor allem in den neuen digitalen Künsten einschließlich der Virtual Reality. Ziel des neuen Programms der Berliner Festspiele ist, die ästhetischen Entwicklungen in diversen Disziplinen zusammenzuführen, für das Publikum erfahrbar zu machen und in einer mehrjährigen Diskursreihe kritisch zu reflektieren.
Das Programm startet am 19. Oktober mit einem neuen «Narrative Space» von Mona el Gammal. Mit «RHIZOMAT» schreibt die 1986 geborene Szenografin ihre Arbeit «HAUS//NUMMER/NULL» (Stückemarkt des Theatertreffens 2014) fort und dringt tiefer in die darin skizzierte zukünftige Welt ein. An einem unbekannten Ort betritt der/die Besucher*in eine Parallelwelt, in der das RHIZOMAT aus dem Untergrund gegen die Übermacht des monopolisierenden, alles überwachenden «Instituts für Methode» arbeitet. Zwischen Dystopie und Utopie, zwischen Gehorsam und Freiheit erfährt der/die Besucher*in ganz auf sich gestellt die Räume und begegnet den Figuren anhand ihrer zahllosen Spuren. Der geheime Spielort gehört zum Spiel.
Am 27. Oktober eröffnet im Martin-Gropius-Bau «Symphony of a Missing Room», ein transdisziplinäres Projekt von Lundahl & Seitl, das den Fokus auf die Wahrnehmung des Zuschauers legt. Mit geschlossenen Augen werden die Besucher*innen von der körperlosen Stimme und der Berührung eines ätherischen «Guides» geführt. Befreit von Raum und Zeit erleben die Besucher*innen das Unvorstellbare: Sie gehen durch Wände, durchqueren Tunnel und reisen dabei durch ein Netzwerk aus vergangenen Ausstellungen und jenen Museen, die «Symphony of a Missing Room» zuvor beherbergten. Die Wahrnehmungen der Besucher*innen sind das einzige Medium dieser Arbeit: ein geschlossenes System, in dem Realität gänzlich dem Wahrnehmenden als eine Form von Projektion entspringt.
Am 17. November eröffnet Omer Fast – einer der bedeutendsten Film- und Videokünstler seiner Generation – unter dem Titel «Reden ist nicht immer die Lösung» seine erste große Ausstellung in Berlin. Im Rahmen von «Immersion» zeigt er im Martin-Gropius-Bau neben mehreren jüngeren Arbeiten auch eine neue Produktion, die diesen Herbst entsteht. Eingetaucht in einem tiefen Kino-Schwarz leuchten Fasts filmisch-immersive Welten verführerisch und führen gleichermaßen verfremdend vor, wie sehr jedes Bild und jede Regung, der wir anheimfallen, auf Konstruktionen basiert. Der Martin-Gropius-Bau zeigt eine Weiterentwicklung der am Jeu de Paume (Paris 2015) und Baltic Mill (Newcastle 2016) stattgefundenen Werkschau.
Vom 18. – 20. November findet die erste «Schule der Distanz» im Martin-Gropius-Bau statt. Ein zentrales Thema immersiver Erfahrungen ist die Distanz, die zwischen Kunstwerk und Publikum neu vermessen wird. Gewohnte Sicherheitsabstände verschwinden, die Kunst lässt sich mehr denn je anfassen, modellieren und beeinflussen. Es entstehen ungewohnte Naherfahrungen und in Reaktion darauf auch neue Distanzierungen, Infragestellungen und Bewusstwerdungsprozesse. Die «Schule der Distanz» versteht sich als eine Apparatur zum bewussten und wissenden Umgang mit Erfahrungen der Immersion. Mit Beiträgen aus Kunst und Wissenschaft vermessen Akteure aus diversen Feldern das Verhältnis von Eintauchen und Auftauchen – sei es durch Vorträge oder künstlerische Arbeiten. Für das Programm neu entwickelte künstlerische und wissenschaftliche Beiträge von: Ed Atkins, Omer Fast, Oliver Grau, David Helbich, Annika Kahrs, Doris Kolesch, Shintaro Miyazaki, Phuong Dan, David Weber-Krebs und Stefanie Wenner.
Das Programm «Immersion» wird im Sommer 2017 fortgesetzt, unter anderem mit großen Arbeiten von Rimini Protokoll, Ed Atkins und Jonathan Meese / Bernhard Lang.
(Pressemitteilung Berliner Festspiele, Herbst 2016)
Mit Ed Atkins, Omer Fast, Oliver Grau, Christiane Heibach, David Helbich, Finn Johannsen / Alexis Le-Tan / Gwen Jamois, Annika Kahrs, Doris Kolesch, Shintaro Miyazaki, Studierende der Universität Hildesheim mit Eike Wittrock, Mirjam Schaub, David Weber-Krebs, Stefanie Wenner im Martin Gropius Bau
Ein zentraler Aspekt immersiver Kunsterfahrungen ist die Verschiebung vom distanzierten Betrachten hin zur situativen Koproduktion. Gewohnte Sicherheitsabstände verschwinden, die Kunst lässt sich mehr denn je anfassen, modellieren und beeinflussen. Das alles in von Künstler*innen geschaffenen Settings, in die das Publikum eintreten und die es sich aneignen kann.
Immersion beschreibt aber nicht nur Erfahrungen mit Kunst, sondern auch einen Modus der Weltwahrnehmung in Zeiten der Digitalisierung unserer Lebenswelten. Digitale Daten, Bilder und Klänge umgeben unser Leben und strukturieren zunehmend die Regeln unseres Alltags. Seit Big Data sind wir allerdings immer weniger Nutzer*innen dieser Daten, sondern werden von ihnen benutzt. Algorithmen organisieren unsere Leben und wissen schon, was wir wollen, bevor wir daran gedacht haben.
Für die Schule der Distanz No. 1 von 18. bis 20. November 2016 im Martin-Gropius-Bau entwickeln Künstler*innen und Wissenschaftler*innen neue Beiträge zur Frage nach Nähe und Distanz in immersiven Zeiten. Sie machen sichtbar, was sonst verborgen bleibt. Sie variieren Regelsysteme, die unveränderlich erscheinen. Und sie schaffen Räume, in denen ein anderes Denken entsteht. Bis tief in die Nacht hinein finden in versteckten Treppenhäusern, selten besuchbaren Winkeln und über den Dächern der Stadt Performances, Vorträge und Installationen statt. Die Schule der Distanz wird so zu einem Ort der geteilten Zeit, an dem durch verschiedenste künstlerische und wissenschaftliche Beiträge Bewusstwerdungsprozesse möglich werden.
Konzept & Dramaturgie Cornelius Puschke
Produktionsleitung Claudia Peters
Projektassistenz Anja Predeick
Technische Leitung Matthias Schäfer, Bert Schülke
Assistenz der technischen Leitung Florian Schneider
Praktikum Hannah Glauner
Link mit dem Programm
Die Narrative Spaces von Mona el Gammal sind angefüllt und aufgeladen mit Geschichten und Informationen. Texte, Objekte, Gerüche, Klänge und Lichtstimmungen geben den Zuschauer*innen eine individuell erarbeitbare Handlung preis. Man schaut nicht distanziert zu, sondern ist mittendrin und setzt die Fragmente der Geschichte selbst zusammen. Jede/r Besucher*in findet so in den Räumen seine/ihre eigene Version der Geschichte und erweckt sie Kraft seiner/ihrer Imagination zum Leben.
Seit 2008 entwickelt Mona el Gammal mit ihrem Team die Form des «Narrative Space», indem sie erdachte Erzählungen in reale, durchschreitbare Räume im Grenzbereich zwischen Realität und Fiktion übersetzt. Ein Möglichkeitsraum, in dem der/die Besucher*in Spuren und Indizien entdeckt, verknüpft und den menschenleeren Raum so zum Sprechen bringt.
Mit «RHIZOMAT» schreibt die 1986 geborene Szenografin Mona el Gammal ihre Arbeit «HAUS//NUMMER/NULL» (Stückemarkt des Theatertreffens 2014) fort und dringt tiefer in die darin skizzierte zukünftige Welt ein. An einem unbekannten Ort betritt der Besucher eine Parallelwelt, in der das «Rhizomat» aus dem Untergrund gegen die Übermacht des monopolisierenden, alles überwachenden «Instituts für Methode» arbeitet. Zwischen Dystopie und Utopie, zwischen Gehorsam und Freiheit erfährt der/die Besucher*in alleine die Räume und begegnet den Figuren nur in ihrer Abwesenheit.
Konzept, Szenografie, Regie Mona el Gammal
Produktion Dana Georgiadis
Autor Evol M. Puts
Sounddesign Tom Förderer
Grafik- und Sounddesign Christian Bo Johansen
Lichtdesign Michael Rudolph
Screendesign Tim Stadie
Überwachungs- und Videotechnik Jens Hallmann
Assistenz Künstlerische Leitung Julia Bahn
Aufbauleitung Amina Nouns
Technische Leitung Hannes Trölsch
Aufbauheld*innen Teresa Fischer, Thomas Fischer, Florian Wulff
Joker Bastian Späth
Assistenz Lichtdesign Martin Siemann
Kernbauer Martin Heise
Grafikdesign Rike Will
Website Oliver Hardes, Michael Bock
Berater Marc Poorterman
Sprecher Petra Bogdahn, Linda Foerster, Lara Hoffmann, Siri Nase, Rike Will, Oliver Böttcher, Juri Padel, Christoph Twickel, Robert Voß
Dramaturgischer Berater Henning Fülle
Co-Autor IFM («HAUS/NUMMER//NULL») Juri Padel
Link zur Website der Berliner Festspiele
Website der Berliner Festspiele
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