«Das System Putin»

unkorrigierte Diskussionsmitschrift beim ILB von TO, 12.9.2018

Manfred Sapper im Gespräch mit Boris Shumatsky («Der neue Untertan - Populismus, Postmoderne, Putin») und Dmitry Glukhovsky («Text) über Putins Russland als «ein konsolidiertes, autoritäres System.» Das Staunenswerte an der Entwicklung des «System Putin» ist seine Wiederwahl mit 75 Prozent der Stimmen Herbst 2018, d.h. die systematische Zerstörung der Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und der unabhängigen Zivilgesellschaft ist in Russland kein von außen aufoktroyierter Prozess, sondern geschieht mit Billigung der russischen Bevölkerung, die sich sozusagen selbst von diesen Rechten und Freiheiten enteignet. Warum sind die Russen so? Und: Was sind eigentlich die Machtressourcen des System Putins. «Russland lügt - das ist das größte Problem im Umgang mit Russland.» Ist die Lüge die Erklärung dafür, warum das System Putin so stabil ist? 

Shumansky: Die Lüge wurde eine sehr effektive Vernichtungswaffe in der Weltpolitik. So «feinfühlig eingesetzt» gab es das bis dahin noch nicht. Als Putin diesen Regierungsstil entwickelt hat, gab es das Wort «Fake News» noch gar nicht. «Die Lüge als politische Waffe» ist eine der Machtressourcen Putins, und diese Waffe wurde inzwischen auch im Westen weiterentwickelt. 

Sapper: Aber es gibt auch andere Perspektiven: Die «Russlandversteher» hingegen sagen - die wirtschaftliche Stabilität ist der Schlüssel zu Putins Erfolg. Weil er den Kühlschrank und den Fernseher als (metaphorische) Instrumente der Herrschaft perfekt benutzt: Der «Kühlschrank» als Versorgungsmetapher - der «Fernseher» als Welterklärer.

Glukhovsky: Bis 2014 war Russland ein «Kühlschrankreich». Alles, was Putin bis dahin den Russen anbieten konnte, hatte mit Wohlstand zu tun. Seit 1999 versprach er das Lebensniveau stetig zu erhöhen - und das ist auch geschehen. Die Ölpreise waren hilfreich. Nach  2012/13 begann eine wirtschaftliche Krise. Die russische Wirtschaft war immer noch abhängig von Öl und Gas, ohne alternative Perspektive. Daher hat Putins Umgebung einen neuen Weg gefunden, um weiter an der Macht zu bleiben - was für Putin die Hauptsache ist: der Machterhalt. So erfand das System das Versprechen, Russland seinen imperialen Status zurück zu geben - aber auch das ist letztlich dem Machtimperativ Putins untergeordnet. Wie mobilisiert man also die russische Bevölkerung? Durch die Implementierung von Nationalismus und die Bedienung der latenten Sehnsucht der Russen nach einem Imperium, d.h. die Rückkehr einer Zeit, als Russland eine Weltmacht war. Die Annektion der Krim war der Ausdruck dieses neuen, alten Chauvinismus, war der Versuch, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den wirtschaftlichen Problemen abzulenken. Der Konflikt mit der Ukraine als come back einer Weltmacht. Alles was der Westen dagegen zu tun versuchte, wurde als Versuch gewertet, diese Rückkehr auf die Weltbühne als Weltmacht zu verhindern. Der Westen wollte «uns» nicht auf Augenhöhe. Das war die Darstellung des Konflikts um die Krim, Ukraine und Donbas. 

weiterlesen

MS: Russland ist heute ein anderes Land als 1989 - es wirkt wohlhabend, hat eine hohe Konsumquote. Von welcher Wirtschaftskrise ist die Rede, wenn es den Russen heute um Klassen besser geht, als in der Jelzin-Zeit oder Ende der 90er Jahre?  

BS: Die Russen vergleichen ihre heutige Situation natürlich heute eher mit 2008 als mit der Jelzin-Zeit und das bedeutet, sie sehen schon einen Verlust. Und sie empfinden sich heute stärker als damals als ein zerrissenes, als gedemütigtes Volk. Was soll Putin tun? «Um an der Macht zu bleiben, muss man die Bevölkerung ernähren oder belügen.» So entstand dieses auf Lügen basierende Russland von heute. Die Frage ist, wann der «kollektive Putin» anfängt, an die eigenen Lügen zu glauben. «Dieser Moment ist gefährlich.»  

DG: Putin ist kein gläubiger Mensch. Was bedeutet es, wenn er sich in der Kirche bekreuzigt? Er fährt einmal im Jahr zu russischen Mönchen auf eine Insel und bespricht mit ihnen die Entwicklung Russlands. Sucht er dort Vergebung? Will er wieder ein Zar sein? Aber als ein KGB-Mensch ist er nicht romantisch, sondern pragmatisch. Die einzige Sache, an die Putin wirklich glaubt, sind die Sünden. Die Leute sind sündig. Die Menschen sind Sünder. Jeder begeht Verfehlungen, jeder hat Schwächen. Und deshalb ist jeder Mensch zu manipulieren. Das ist, was Putin als KGB-Mensch gemacht hat. Korruption ist nützlich für das System Putin. Da die Menschen Sünder sind, können sie bestochen werden. Und schon haben sie Angst. Alle Politiker, Oligarchen, Unternehmer - in Russland oder im Westen - kann man bestechen oder bedrohen. Und das ist äußerst effizient, um ein riesiges, kompliziertes Land zu regieren. Das ist das einzige, woran Putin glaubt. 

MS: Kennzeichen des Systems ist also das negative Menschenbild Putins - «Angst als Schmiermittel der Macht und Stabilität.» 

BS: Angst unter Stalin war etwas anderes. Angst, etwas falsches zu sagen. Eine Stelle oder einen Auftrag zu verlieren oder bei der Demonstration verprügelt zu werden. Lüge - und an die eigene Lüge glauben - «Putin glaubt, dass jeder Mensch eine Schwäche hat.» Das lernt man beim KGB und: «Die Wahrheit selbst ist genauso verletzlich wie eine Persönlichkeit.» Ein Mittel, um die Wahrheit zu bekämpfen, ist die Methode, DIE Wahrheit zu relativieren, es gibt eine weitere und weitere Wahrheit; und so keine mehr. 

DG: Stalin fehlte das Fernsehen. Im Fernsehen kann man wichtige Sachen simulieren, statt sie in Wirklichkeit zu realisieren. Putin hat das Fernsehen, um kalten krieg, oder Bürgerkrieg in der Ukraine zu simulieren. 

Russland hat einen schlechten Ruf, aber «wenn man in Russland ist, findet man sich in einem relativ weichen, autoritären Regimechen». Ja, dort hat man ein paar Dutzend politische Gefangene. Aber nicht so viele wie in der Türkei. «Natürlich haben wir ein paar politische Morde - aber das ist nicht so schlimm wie in den sowjetischen Zeiten», so sagt man. Wenn das System jeden Fall durch das nationale Fernsehen «filtern» kann, schafft es wirklich den Eindruck, der die Jugend demotiviert, weitere Protestaktivitäten zu veranstalten. Es reicht, dass ein paar jugendliche Mädchen im Fernsehen als Terroristinnen beschuldigt werden. Das bekommt viel Aufmerksamkeit von Staatsmedien. Die täglichen Rechtsbrüche kommen hingegen nicht vor. Fernsehen ist sehr nützliches Mittel der Manipulation.

MS: Fernsehen wirkt stärker als Angst. Aus Sicht derer die in Lagern sitzen, ist das vielleicht zynisch. «Volksfeind» und «Ausländische Agenten» sind stalinistische Begriffe. 

DG: Die Zustände in Russland sind einer absurden Komödie näher als einer Tragädie. «Wenn du das autoritäre System als Tragödie auffasst, machst du es stärker.» Wenn man hingegen versteht, dass man in postmodernen Zeiten lebt - dass Autokrat zu sein für Putin mehr ein Spiel ist als Realität, dann heißt das, dass Putin eher ein Spieler um die Macht ist als ein echter Diktator.  «Lächeln ist besser als Schreien. Satire ist immer ein stärkeres Werkzeug gegen Diktatur als Revolution.» 

BS: Er möchte daran erinnern: «Der politische Häftling Oleg Senzow stirbt gerade am Polarkreis.» Er erinnert an die Geschichte der russischen Dissidenten und beschreibt, wie es ihm, aus nachvollziehbaren Gründen, an Mut fehlte, heute an einem Jubiläumstreffen von Dissidenten auf dem Roten Platz teilzunehmen.  

MS: Es ist kein postmodernes Spiel, was in der Ukraine passiert. Eine neu formierte Nationalgarde, die im Ausnahmezustand einen Schießbefehl gegen die eigene Bevölkerung erhält. Angesichts der Korruption fragt er sich - warum können sich 25 Millionen ein aufklärerisches Video von Navalni über allseits bekannte Betrüger und korrupte Politiker anschauen, und gleichzeitig diese Zustände akzeptieren. 

DG: «Das letzte Mal, als die Russen das nicht akzeptiert haben, war die Revolution 1917 - sie haben deshalb keine Lust auf eine neue Revolution, sie sind von deren Folgen müde geworden. Die Straßenproteste werden zu nichts führen, glauben die Leute. Sie sagen, dass die Eliten nicht akzeptabel sind, aber: Was können wir ändern? War die Lage je anders? Nein. Wir hatten immer die Kaste der Leute derer, die das System lenken und davon profitieren. Und auf der anderen Seite die «einfachen Leute», die keine Rechte haben. Polizisten und Geheimdienst und der orthodoxen Kirche dienen - vielleicht ist sie sogar identisch mit dem KGB - dem System Putin und sie alle sind «unbestrafbar». Das war immer so, im Zarenreich, in der Sowjetunion. Es ist die Fortsetzung einer langen Tradition von Rechtlosigkeit. Aber jetzt haben wir etwas zu essen und dürfen ins Ausland. Das ist ein «Fortschritt» aus der Perspektive der Russen heute. Was stimmt: Ukraine ist kein postmoderner Krieg, sondern ein echter. Der trotzdem nicht eskaliert und als ewiges Thema der Talkshows benutzt wird. «So betrachtet kostet der Ukraine-Krieg dem Kreml relativ wenig im Vergleich zu dem Nutzen, den Putins aus den Talkshows zieht.»  

BS: «Korruption ist in Russland, aber auch in anderen Ländern, etwa Bulgarien, das «Blut der Wirtschaft» - etwas, das sie zusammenhält, verwoben mit Kriminalität, wie in Süditalien. Korrpution wird in vielen Ländern nicht Nachteil empfunden, sondern als natürlicher Teil der politischen Maschinerie. Andere Maschinen laufen vielleicht besser, wie in Finnland oder Deutschland, aber der Weg zwischen den Maschinen von Bulgarien und Russland zu den anderen ist so unendlich weit. Und daher sagt man sich in Russland: Es geht eigentlich ganz gut, wie es gerade läuft. Obwohl es bessere Systeme gibt als das System Putin. Das wissen die Russen selbst. Aber wie kommt man dahin? 

MS: Zynismus ist Machtressource Putins, sagt DG. «Es war schon immer so». Wie kann der Westen dem System Putin begegnen? 

BS: «Den Westen» gibt es nicht mehr. Den Westen, der sich Putin oder Trump entgegenstellt, gibt es nicht mehr. Dieses «Wir» ist eine ehrwürdige demokratische Tradition. Gut wäre, in Russland Verbündete zu suchen und SIE zu fragen, was sie wollen und brauchen. Helsinki-Gruppen haben in der Sowjetzeit geholfen. Ohne den einheitlichen politischen Willen des Westens hätte es das nicht gegeben. Aber der ist inzwischen nicht mehr vorhanden und daher kann man heute nur die Einzelnen fragen, was SIE wollen. 

DG: «Ich teile die tragische Vision von Boris nicht. Sie werden im Westen alle diese Flüchtlinge «verdauen» - es wird allen gut gehen, der Euro wird stabil bleiben. Für die Änderungen des Systems wird es Generationen brauchen - das gilt auch für den Menschen: Putin muss älter werden und sterben. Ich hoffe, ich werde noch am Leben sein. Diese Sachen passieren nie schnell und einfach.» Deswegen: Es wird dort keinen drastischen Wechsel geben. «Ich finde gut, dass es den Brexit gab, das wird gut sein für das vereinte Europa. Briten waren nie einverstanden mit Europa.» HIlfe für die russische Oppostion? «Machen Sie es nicht. Weil jede Hilfe vom Ausland wird als fremde Einmischung von der Bevölkerung wahrgenommen. Das wird nie zu einem guten Ergebnis führen. Die NGO’s muss man unterstützen. Putin muss wissen, dass er sie nicht bestrafen kann.» Am Wichtigsten aber ist:  «Man muss nichts tun - Putin macht mehr, um sein eigenes System umzubringen, als der Westen das je könnte. Er arbeitet hart daran, sein Wirtschaft zu zerstören, sich zu isolieren. Die einzige Sache, die im System Putin effizient läuft, ist - an der Macht bleiben.» Die Wirtschaft, die internationale Beziehungen, die Vision für eine Zukunft - das alles ist ein Desaster. Die Klügsten Leute, die Putin hat, arbeiten nur an dem Projekt: Wie bleibe ich an der Macht. Alle anderen, die sich um die Wirtschaft kümmern, internationale Beziehungen oder Zukunft, sind «Idioten». Mit der Ukraine-Intervention wollte Putin die Ukraine an Russland binden oder sie reintegrieren, statt dessen hat er sie in den Westen getrieben. Das Gegenteil ist passiert. Die Krim ist für die Russen nutzlos und eine Last. Aber dank Putin ist die Ukraine nun vereintes Volk - ein als antirussischer und antiputinistischer Nationalstaat und wir, die Russen, haben die guten Beziehungen zur Ukraine für Jahrzehnte verloren. Dasselbe bewirkte Putins Ambition, Russland als Weltmacht darzustellen - es hat sein Land isoliert, es ist ohne Einfluss - außer in Syrien. Aber wofür? Nur um den Amerikanern  den Mittelfinger zu zeigen, den Mittelfinger den Deutschen mit der AfD und Frankreich mit Le Pen. 

BS: Man kann auch anders helfen. Nicht mit Geld. Z.B. mit einer Visafreiheit für die Reise nach Deutschland. Es gibt Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit jenseits des Korruptionssystem. Man kann helfen und eindämmen - durch Sanktionen, diese Entscheidungen des Westens nach dem Krimkrieg waren wichtig. 

MS: Zum Schluss: Der Krieg in Afghanistan führte die Sowjetunion in die Stagnation und Untergang. Heute wiederholt sich das. In den 80ern gab es die erste Welle der Emigration. Heute ist Russland ein autoritäres System mit menschlichem Antlitz. Ein «Regimechen», aber es gibt erneut einen Braindrain - in Russland selbst gibt es keine Modernisierung mehr, keine wirtschaftliche Strategie, nur den Verlust der Zukunft, die kompensiert wird durch Politik der negativen Mobilisierung, Abgenzung vom Westen, neoimperialen Gemütsbildung, eine ethnonationlae Mobilsierung. Das ist so kompliziert, dass wir uns weiter damit beschäftigen müssen.