«Eine fortwährende Entfaltung»

Gespräch über Jon Fosse

Therese Bjorneboe: Haben Sie ein Lieblingsstück von Jon Fosse?  

Thomas Oberender: Mein Lieblingsstück ist «Winter» - es ist vollkommen abstrakt und symmetrisch wie eine Fuge von Bach komponiert. Das wirkt überraschend, weil die Wahrnehmung des Stückes von psychologischen Augenblicksregungen bestimmt scheint, wodurch die fast schon mathematische Spiegelung und Verkehrung der Figurationen, in der sich die Charaktere des Stückes am Anfang begegnet sind, im Verlauf des Stückes fast nicht auffällt, so vom Zufall bewegt wirkt das Ganze. Aber die in diesen vier kleinen Episoden verborgene Mathematik – oder Poesie – verbindet all die Szenen durch etwas Untergründiges, das man spürt, aber nicht benennen kann.

Therese Bjorneboe: Welche Wirkung hat das Schreiben von Jon Fosse auf Sie?

Thomas Oberender: Jedes Stück von Fosse handelt im Zentrum von einem Skandal, der heftig und disruptiv wirkt, aber seine Erscheinungsform ist die eines Seebebens: Die Gewalt der Erschütterung tritt also nur an den Rändern auf, an den Grenzüberschreitungen - riesige Wellen aus Gefühl und Ohnmacht treffen am Ufer aufs Land. Der Autor sieht und zeigt das aber vom Meer aus. Sein Schreiben wirkt in vieler Hinsicht paradox – denn die Menschen schweigen und verstummen in seinen Texten nicht, weil sie nichts zu sagen haben, sondern weil zu viel zu sagen wäre, aber, so scheinen sie zu spüren, nicht ohne Schaden. Weil das Sagen in Fosses Welt eben selbst ein Akt von Gewalt, von Einwirkung und Zudringlichkeit gegenüber der Fragilität jedes Anderen ist, und vielleicht sogar gegenüber der «Ordnung der Welt», die bei Fosse aus Übergängen ins Paranoide, die Welt der Toten und ins Verstummten führt, aber auch in die feinsten Wahrnehmungen der Liebe, des Zaubers der Jugend, der Bedrückung der Armut. Fosse schreibt Stücke im Sinne von Rites de Passage - es sind Übergangswerke. Während wir uns daran gewöhnt haben, dass Dialog zu Handlung führt oder sie vorantreibt, ist für Fosse der Dialog selber die Handlung. Sprechen ist Zerstörung in Fosses Welt. Und Sprechen ist zugleich auch Ergänzung. Sprechen fügt dem Seienden etwas hinzu, weil das Gesagte, alles, was gesagt wird, zugleich ein Fakt wird. Der brutale Kern aller Fosse-Stücke, zumindest vor der Phase seiner großen Werkdestillate aus dem Kanon der Weltliteratur, bestand in genau dieser Halbsprache seiner Figuren - ihren endlosen Partituren aus Verstummen, Pausieren, Neubeginn, Zögern, zur Floskel greifen und Abbrechen. Das hat er erfunden – niemand hat das vor ihm auf ähnliche Weise gemacht. In dieser hypergenauen Vornotation der Botschaftsentfaltung und im «gestörten» Sprechen wird jeder Schauspieler und jede Schauspielerin die Aussage also mit eigenen Gesten ergänzen müssen. Sie «erfüllen» also auf der Bühne mit der eigenen Präsenz, was durch den Autor an Bruckstücken vorgegeben wurde. Diese Ergänzung macht, dass die Stücke von Fosse so persönlich dargeboten wirken, so wenig «gespielt» und so stark vor unser aller Augen «vollzogen». 

Therese Bjorneboe: Welche Wirkung geht Ihrer Meinung nach von Jon Fosses Stücke auf die zeitgenössische Theaterliteratur aus?

Thomas Oberender: Jon Fosse hat eine eigene Theatersprache wie Beckett geschaffen. Es ist mit ihm ein Sound und melancholisches in-der-Welt-sein von Figuren entstanden, das man mit ihm und nur mit ihm verbindet. Er hat dem Theater des zwanzigsten Jahrhunderts - vom Text her - wieder Takt, Achtung vorm Tod und die Zerbrechlichkeit der Liebe geschenkt. Er hat dafür eine eigene Sprache geboren, an die Tür des Wahnsinns geklopft und seinen «kleinen Leuten» die große Dimension des vollen Lebens geschenkt. Im Grunde gibt es natürlich mehrere Fosses: Den Dramatiker, der streng auf dem Boden des Irdischen bleibt, und den anderen, der Steinchen hinüber wirft in die Anwesenheit des Todes und der Toten. Er hat sich als Künstler früh für die Position des Loners entschieden – all seine Stücke kommen vom Rand. Und auf der Bühne gehen seine Figuren ein Stückchen über diesen Rand hinaus. In Zeiten da wir versuchen, uns vom Westen, seiner zerstörerischen Rationalität und Lebensweise zu dekolonialisieren, andere communities mit anderen Wahrheiten und Lebenspraktiken zu finden, die achtsamer für die Natur und soziale Frage sind, ist Fosse unser Schamane. Seine Stücke werden nicht alt. Jedes wirkt frisch wie ein Bild von Lars Hertervig, und für mich gehen sie in der Erinnerung auch mehr oder weniger in einander über: Der «Traum im Herbst» in die «Todesvariationen» und es ist eine fortwährende Entfaltung - nicht des Gleichen, aber jener einen großen Fahrt ins Leben, wie Fosse sie macht. Seine Texte sind der Beweis, das Interpretieren, wie sie es ermöglichen, keine Dienstleistung am Autor ist, sondern eine sehr individuelle Reise in eine Struktur, die trägt und dazu verführt, sich zu verlassen und das Leben zu finden. In diesen alten Guckkastenbühnen, mit Schauspielern, die dafür die Worte der anderen lernen, wer hätte das gedacht.