«An den Grenzen der Figur»
Das Begegnungstheater des Comedian-Stars Michael Kessler
Von Thomas Oberender
Stellen Sie sich vor, Sie könnten sich selbst gegenüber sitzen, lebensecht wie ein eineiiger Zwilling, und «sich selbst» Fragen stellen. Die Antworten würden Ihnen dieses Double geben, das fast wie Sie spricht und es offensichtlich auch vermag, in Ihrer Art zu denken. Sie würden sich selber sehen, wie Sie sind und zugleich gäbe es eine kleine Verrückung, weil dieses andere Ich eben ein anderer Mensch ist, der Sie auch ein wenig interpretiert. Eine solche Szene ereignet sich regelmäßig im Finale der Fernsehsendung «Kessler ist…» und bis heute bin ich fasziniert von diesem Moment, da ein Schauspieler seinen Gästen als ihr Double gegenüber sitzt und sie mal lachend mal erschrocken auf sich selber schauen. Vielleicht ist diese Show im Fernsehen nur ein Nischenformat, aber es zeigt ein kleines Wunder. Sie geht bis an die Grenzen einer Figur und die große Frage ist: Was ist dahinter? Zeigt sich hier der «wirkliche» Mensch?
Michael Kessler ist gelernter Schauspieler, er stand am Stadttheater in Mannheim und Oldenburg auf der Bühne und führt selber Regie. Seine Auftritte in Filmen wie «Manta, Manta» und in Fernsehshow «Switch» machten ihn berühmt, genauso die Reihe «10 Dinge, die Sie nicht tun sollten» auf YouTube. In der jüngsten Zeit schuf er ungewöhnliche Reiseformate und seine Serie «Kessler ist…» ist die vielleicht aufregendste Expeditionssendung des deutschen Fernsehens. Ursprünglich in Israel erfunden, zeigt dieses Format die Metamorphose eines Moderators vom Interviewer in die Gestalt des von ihm Befragten und wie Michael Kessler diese Verwandlung in seinen Stargast vollzieht und ihm schließlich gegenübersitzt, ist faszinierendes, episches Fernsehtheater.
Die Schritte von Michael Kesslers Verwandlung in Prominente wie Kai Pflaume, Götz Alsmann oder Michael Mittermeier führen in jeder Sendung in drei Stufen von der ersten Begegnung mit dem Star vor einem Spiegel über die anschließende Recherche seiner Lebensumstände und die maskentechnische Verwandlung zum Höhepunkt der Sendung – der Konfrontation des Doubles mit seinem Original. Diese finale Szene ist stets improvisiert und «unplugged» und tatsächlich zieht sie den Vorhang vor dem Leben eines fremden Menschen sehr weit auf. Und ich glaube, dass es seinen guten Grund hat, dass es in diesem Format nicht um unbekannte Helden und Experten geht, sondern um mehr oder weniger berühmte Celebrities.
Wenn es Menschen gibt, die niemanden mehr so einfach in sich hinein schauen lassen, dann sind es Prominente, jene Stars, die wir vermeintlich alle kennen. Es sind Gestalten, hinter denen sich die Berühmten verbergen, weil sie diese Figuren vorschicken, wenn andere nach ihnen fragen und die sie als Gestalten nutzen, um sich immer wieder von sich selbst zu befreien. Jeder Star hat irgendwann für seine Figur eine zitierbare Ikonographie entwickelt - eine unverwechselbare Frisur, Schnurrbartform, einen Kleiderlook oder eine sprachliche Marotte, durch die eine Art «Markenformel» für sein Selbst entstand. Viele Prominente denken und reden von sich selbst in der dritten Person, denn sie sind sich im Laufe der Jahre selbst zu dieser Figur geworden. Der Heino spricht vom «Heino». Nicht, weil sie ihre Person in dieser Figur verloren hätten, sondern im Gegenteil, weil sie in dieser Figur eine Formel für sich selbst gefunden haben. Was kann ein Menschensucher wie Michael Kessler also finden, wenn er in diese Schutzschildgestalten hineinschlüpft?
«Schauen Sie in den Spiegel - was für einen Menschen sehen Sie?», mit dieser Frage an seinen Gast beginnt Michael Kessler gelegentlich die Sendung. Wer ist z.B. diese Dunja Halali, die Millionen Zuschauer als Moderatorin des ARD-Morgenmagazins kennen? Für ein paar Minuten steht Michael Kessler an ihrer Seite vor einem bodentiefen Spiegel und hört zu, wie sie sich selbst beschreibt. Ab und an fragt er nach und studiert sie dabei wie ein Körpermodell in der Zeichenklasse. Im nächsten Schritt trifft er einige ihrer Freunde, ehemalige Lehrer, Kollegen und Angehörige und wieder stellt er sehr aufmerksame, ungewöhnliche Fragen, analysiert sie wie ein Profiler, aber ohne nach Pathologien zu suchen, ohne Urteil. Das Ergebnis ist eine riesige Pinnwand. Sie zeigt Fotos aus allen Lebensphasen und – umständen und stets sind die Gäste sehr bewegt, wenn sie diesem Lebenspuzzle im Loft des Moderators entgegen treten.
Diese Pinnwand ist der zweite Spiegel, vor dem Kessler mit seinem Gast steht und redet. Seit Monaten ist er die Lebensspuren seines Gastes abgegangen und hat dabei auch dessen Art zu gehen übernommen. Immer wieder ließ er sich dabei beobachten, wie er dessen Sprache und Gestik in kurzen Videofilmen studiert und sie lernt wie eine Fremdsprache - wie einen Code, den man beherrschen muss, um ins Innere eines gut gesicherten Gebäudes vorzudringen.
Michael Kesslers Format zeigt über weite Teile die Offenlegung jenes hochgradig immersiven Vorgangs - man beobachtet den Schauspieler, wie er über Wochen immer detailgenauer zu einem anderen Menschen wird, den er, wie der Titel sagt, nicht nur vorzeigt, sondern in den er eintaucht und der Michael Kessler schließlich für einige Minuten «ist», ganz so als wäre es ihm gelungen, in den Mittelpunkt dieses anderen Daseins zu treten und es plastisch auszufüllen. So lässt sich dieser andere Mensch, seine Denk- und Lebensweise durch ihn spielend erschließen - Michael Kessler ist drin, im Leben dieses anderen, so intensiv und allumfassend, wie das unter den Bedingungen eines Fernsehprojekts überhaupt nur sein kann.
Dem folgt ein seltenes Abenteuer, denn Schauspieler vermögen es in der Regel nie, das Original ihrer Figur zu treffen. Etwas Gespenstisches und zugleich Varietéhaftes umgibt diese Leistung - es ist, als ob man einem Zaubervirtuosen zuschaut, der seinen Trick vorher genau erklärt hat und dann doch etwas vorzeigt, was sich nicht wirklich begreifen lässt, so etwa, wenn Horst Lichter auf Horst Lichter schaut und ihm bei den Gesten und Gedanken seines Gegenübers, das er selbst ist, die Tränen kommen.
Aber auch als Betrachter fühlt man sich in vielen Momenten dieser Begegnung gerührt, weil sich eben eine kleine Verrückung ereignet - denn Hugo Egon Balder, Stefani Hertel oder Stefan Effenberg sitzen ja nicht nur ihrem körperlichen und seelischen Double gegenüber, sondern sich selbst plus Michael Kessler. In diesem Spiegelbild zeigt sich nicht nur ihre eigene Kopie, sondern in deren Gestalt wirkt zugleich noch ein lebenskluger Künstler, der dieses Moment des Eintauchens in den anderen Menschen transzendiert. Am Schluss schaut er mit einem gewissen Abstand auf seine angenommene Gestalt und sagt Dinge, die Horst Lichter als Horst Lichter zwar aus der Seele sprechen, aber aus einer Ecke, in die er sich noch nie verirrte.
Anders als die Spielfiguren in Videogames sind die Kesslerschen Wiedergänger keine Wunschgestalten, sondern Echtzeitkopien, die sich so verhalten, wie die Gäste sind - mit einer kleinen, unmerklichen Verschiebung, wie sie nur die Kunst vermag. Als Comedian ist Kessler darin geübt, andere Menschen durch die Übertreibungen zur Kenntlichkeit zu entstellen. Hier aber passiert das Gegenteil: Nichts wird entlarvt, er nutzt seine Begabung wie ein Techniker, wie ein Heiler, um, als ein anderer, behutsam die Möglichkeitsformen des Anderen zu erkunden. So wie der Regisseur Alvis Hermanis früher seine Schauspieler in Riga losschickte, um sich Menschen in der Stadt zu suchen, mit denen sie einige Monate gemeinsam leben, sie studieren, nachahmen und als Gestalten zurück ins neue Stück bringen, so sammelt Michael Kessler im Starzirkus die Figuren ein und gibt ihnen einen kleinen Dreh.
Kessler hat bemerkt, dass Heino die Hände gerne hinter dem Rücken verschränkt, was diesem in 70 Jahren nie auffiel. Kessler sucht die Lücke in der Figur seines Gastes, etwas, das sie nicht unter Kontrolle hat und sie also besonders kenntlich macht. Gibt es eine solche «Lücke» auch bei Michael Kessler? Ich weiß nicht, ob man ihm wirklich nahe kommt. Die Sendung, die ihn «als er selbst» präsentiert, verbirgt ihn zugleich. Das Format will «Authentisches» zeigen, macht aber dauernd Tricks. Gerade die aufrichtigsten Momente wirken hier oft komisch. Man möchte lachen, wenn man Michael Kessler sich in der Sendung über Gregor Gysi «sinnierend» im Plenarsaal umschaut und dabei «privat» versunken ein Bundestagsbonbon lutscht. Es ist schwierig, vor laufender Kamera man selbst zu sein. Harald Schmidt muss immer mit den Augen zwinkern, sobald man ihn anschaut.
Wer Michael Kessler wird, das beobachte ich von Folge zu Folge mit größerer Spannung. Wer Michael Kessler «ist» – das zeigen weniger die «authentischen» Voice Over Ansprachen des Moderators und die Reportage vom Dreh, sondern jene kleinen Momente von humaner Geistesgegenwart im Gespräch, ebenso wie jene kleinen Verrückungen, wenn die Kopie vom Original auf eine sehr menschenfreundliche Art abweicht, weil Michael Kessler als Autor und Orakel aus ihr spricht.