Die russische Kultur ist gecancelt

Interview mit Ilya Khrzhanovsky über den Ukraine-Krieg und sein Projekt DAU

Von Thomas Oberender

Das Filmprojekt DAU verdankt seinen Titel dem Spitznamen des einzigen sowjetischen Nobelpreisträgers, des Physikers Lew Landau. Das wissenschaftliche Institut, an dem er unter anderem an der sowjetischen Atombombe forschte, wurde zum Vorbild für ein fiktives Institut, das als ein riesiges Filmset im ukrainischen Charkiw entstanden ist und die Lebensgeschichte des Wissenschaftlers mit dem Portrait von 30 Jahren Sowjetgeschichte verbunden hat. Was als Dreh eines normalen Kinofilms in der Regie von Ilya Khrzhanovsky begann, wurde zu einem work in progress, in dem das Leben der Menschen im historischen Set zum eigentlichen Material des Filmes wurde. Es entstand eine Mikrogesellschaft, die fast drei Jahre lang auf eine geheime Zeitreise ging. Gefilmt wurde mit einer Kamera und ohne Skript. Es entstanden über 700 Stunden Film auf 35-mm-Material. Das Projekt hatte 400 Hauptrollen, die mit unzähligen Statisten und Gästen eine einzigartige «Testgesellschaft» bildeten. Am Set lebten bis zu dreihundert Menschen, darunter namhafte internationale Künstler, Forscher, Priester, Schamanen, Ex-KGB-Offiziere, die in der fiktiven Filmwelt ihren normalen Berufen als Wissenschaftler, Techniker oder Service-Personal nachgingen. Sie trugen vor Ort die Kostüme und Frisuren unterschiedlicher Sowjetepochen, aßen die damaligen Gerichte, wurden mit Sowjet-Rubel bezahlt und hatten ihre eigene Zeitung. Nach fast 10 Jahren Schnitt liegen inzwischen 14 Kinofilme aus dem DAU-Universum vor. Ilya Khrzhanovsky arbeitet inzwischen als Künstlerischer Leiter des Babyn Jar Memorial Center in Kiew.

Thomas Oberender: Lebt diese sowjetische Gesellschaft, die das DAU-Projekt über fast drei Jahre in Charkiw hergestellt hat, heute, 15 Jahre nach Ende der Dreharbeiten, in Putins Russland fort?

Ilya Khrzhanovsky: Die DAU-Filme zeigen das Portrait von zeitgenössischen Menschen, nicht von Menschen aus der Vergangenheit. Wir haben postsowjetische Menschen in die Situation der Sowjetunion versetzt und dabei wurde klar, dass die Leute sich nicht sehr verändert haben.