«Occupy History. Alternativen zur Alternativlosigkeit»
Es ist doch interessant, sagte ein Freund, dass der Osten im Westen nur dann zum Thema wird, wenn man Angst vor ihm hat. So wie der drohende Wahlerfolg der AfD in Sachsen-Anhalt wieder zu der Frage führte: Wie ist denn der Osten drauf? Reflexartig sucht der verunsicherte Westen nach Erklärungen. West-Feuilletonchefs rufen Bekannte im Osten an, fragen, ob sie dazu etwas schreiben können. So erklärt der Osten wieder den Osten, und das oft in Beilagen und Blättern, die man im Westen gar nicht liest. Die Hamburger Zeit-Beilage «Zeit im Osten» kann man etwa in Hamburg nicht lesen. Bücher von Ostdeutschen werden von Ostdeutschen rezensiert. Und inzwischen gibt es richtige Profi-Ossis, Berufs-Ossi-Versteher. Vermutlich bin auch ich auf dem Weg einer von ihnen zu werden und muss doch erkennen, dass Empowerment Ost – die Gestaltung der Narration der eigenen Geschichte durch die Ostdeutschen selbst – am Ende nur Ostdeutsche beschäftigt.
Vor wenigen Tagen zur Wahl befragt, fühlten sich - parteiübergreifend - 75 Prozent der Menschen in Sachsen-Anhalt laut Befragungen noch immer als «Bürger zweiter Klasse». Und es sind auch nicht die von Marco Wanderwitz ausgemachten «diktatursozialisierten» Rentner, die überwiegend die AfD wählen, sondern junge Wähler, daheimgebliebenen Ost-Männer, denen die Frauen in den Westen davongelaufen sind, und irgendwie auch die Hoffnung.
Die Erinnerung an die Reformideen von 1989/90 blieb lange selbst im Osten blass. Es war lange nicht vorteilhaft, sich auf die Herkunft und Erfahrungen aus der DDR zu beziehen. Viele Prediger sahen zu DDR-Zeiten in ihren nichtkirchlichen Mitbürgern vor allem unmündige und innerlich ergraute Menschen. Das heißt, es muss eigentlich gar kein Westdeutscher kommen, der den Ostdeutschen erzählt, warum sie Defizite haben, das machten die Ostdeutschen selbst. Ausgerechnet die wenigen Repräsentanten ostdeutscher Lebensläufe, die es nach der Wende zu Amt und Würden geschafft haben, hielten das alte Ressentiment wach, das der kritische Osten dem Osten selber gegenüber hatte. Die Erinnerung an die gelungene Revolution und ihre Reformideen blieb lange blass und bloß hintergründig.
Heute brauchen wir einen anderen Blick auf die DDR und die Wiedervereinigung. Und das schließt ein, dass wir auch eine neue West-Erforschung brauchen. Wenn wir uns mit der Revolutions- und Transformationszeit nach 1989 auseinandersetzen, fällt auf, dass auch der Westen ein «ehemaliger» wurde und Einfluss auf den Osten nahm, viel mehr als umgekehrt. Wir brauchen eine Debatte, die den Osten nicht mehr bloß als Entwicklungsgebiet sieht. Denn die von den akuten Sorgen um die Demokratie angestoßene Kurzzeitaufmerksamkeit für die neuen Ländern ignoriert meist deren divergierende Wahrnehmung der Wiedervereinigungsgeschichte.
Dagegen hilft nur Occupy History: das Einschleusen anderer Stimmen, der Versuch, andere Erfahrungen sichtbar zu machen, ohne Schuldzuweisungen, die heute ohnehin nichts mehr ändern. Es geht um das komplette Bild, das natürlich nie komplett ist. Gegen das 99:1 Verhältnis in den Leitungsebenen der Leitmedien geht es um die Einbeziehung der Revolutions- und Transformationserfahrungen der Ostdeutschen, deren intersektionelle und feministische Seite, es geht um Empathie und die Suche nach den Wende-Verbündeten von heute.
«Die Menschen im Osten haben Großartiges geleistet», hört man immer wieder. Und sofort möchte ich König Kurt Biedenkopf Zepter und Zeugnisheft aus der Hand nehmen und sagen: Ach ja? Die Rede von dieser Art Erfolg ist eine Rede über den Erfolg von Geld, vom Nachhilfekurs der westlichen Regelschule. Dreißig Jahre sind wir im Nachholen trainiert worden, im Kotau vorm Etablierten. Außer vielleicht an Frank Castorfs Volksbühne, an Heiner Müllers BE oder in Andreas Dresens Filmen. Aber ihr habt doch so viel gewonnen!, sagt König Kurt. Nun gut, die Landschaften blühen vielleicht nicht ganz so bunt, wie Kanzler Kohl es versprach, aber ehrlich: Wem geht es schlechter? Und haben wir euch nicht so viel gegeben? Es ist die alte Leier: Die Helfergeschichte, die Schwierigkeiten-mit-dem-Nachholen-Geschichte, die trotz-allem-wird-alles-gut-Geschichte. Das war 30 Jahre lang der Modus der Vereinigung. Es ist der alte Singsang wie an den Meldestellen für Migranten, egal wie gebildet sie sind und wie viele Sprachen sprechen.
Überhaupt kommt immer, wenn etwas «alternativlos» wird, das Geld ins Spiel. Dabei hat das Geld auch Vieles erst alternativlos gemacht. Vom Osten blieb nur das Ampelmännchen. Und diese Wende-Vermeidung bewirken die Milliardenhilfen zur Pandemie-Bekämpfung wahrscheinlich wieder. Wieder lösen wir mit Geld, was wir uns ansonsten nicht zu ändern trauen. Was auch einen tieferen Zusammenhang zwischen der großen Erzählung von der Alternativlosigkeit und dem großen Geld herstellt.
Corona, Wirtschaftsflaute, Kurzarbeit – all das holt Verborgenes hervor. Die Bundespolitik machte in den letzten anderthalb Jahren eine traumatisierende Unsicherheits-Erfahrung. Sie betraf nicht nur Teile des Landes wie nach 1989, sondern alle. Nie hätten wir erwartet, Einschränkung bürgerlicher Freiheiten oder temporäre Betriebs- und Schulschließungen erleben zu müssen. Oder mit Triage und Bundesnotbremse konfrontiert zu werden. Die Mehrheitsgesellschaft machte Erfahrungen von Ohnmacht und Angst, die zuvor nur Teile der Gesellschaft betrafen.
Ähnlich wie 1989 reagiert die Politik darauf mit Stabilisierungsversuchen. Das sicherste Mittel ist Geld. Viel Geld. Man kann, so scheint es, auch zu reich sein für Veränderungen. Wie 1990 stehen wir vor einem Scheideweg: Führt die Reise in die Expansion des Bestehenden? In eine erfolgreiche Stabilisierung des Alten, wo nur kleine Umweltschräubchen gedreht werden? Oder nutzen die Systeme ihre Erschütterung für einen echten Leitbildwechsel.
Noch nie war seit 1989 so viel von Wende die Rede: Energiewende, Verkehrswende, Wirtschaftswende, Rohstoffwende, Klimawende usw. Aber sieht es derzeit wirklich nach einer Wende aus? 1989/90 gab es, wie jetzt, eine Vielzahl von Reformakteuren: Menschen die neue Bewegungen bildeten, andere Modelle des Widerstands, alternative Mitbestimmungsformen, neue Institutionen entwickelten, neue Beteiligungsformen, alternative Medien und aktivistische Foren. Es war, wie Elske Rosenfeld sagt, die erste Revolution des 21. Jahrhunderts - ohne organisierende Avantgarde, ohne Programm, radikal basisdemokratisch. Sie beendete eine Diktatur und war auch eine Revolution gegen vergiftete Landschaften, die Erschöpfung der Erde durch den Menschen. An ihrem Ende stand die Schaffung der größten Naturschutzgebiete, die es bis dahin in Deutschland gab.
Bewegungen wie Fridays for Future oder Black Lives Matter haben eine Generation später Generationen übergreifende Proteste mobilisiert. Im Osten sind bürgerschaftliche, von der jungen Generation getragene Initiativen zur Geschichtsbefragung entstanden, welche die alternative Realität, die kaum 30 Jahre zurückliegt, noch einmal in ihren Schwächen, Fehlern und Stärken neu und offen befragen. Sie stellen Fragen wie die, wie man in volkseigenen Betrieben eigentlich gearbeitet hat – oder welche Rolle die Gewerkschaften spielten.
Das verbindet sich mit sehr heutigen Fragen: Warum organisieren sich in unseren Kulturbetrieben keine Künstler*innen in der Gewerkschaft? Warum, fragt die junge Kölner Galeristin Aneta Rostkowska, bezahlen wir heute viel Geld für nachhaltiges Verbrauchsmaterial und weisen die Verwendung von Öko-Strom nebst CO2-Bilanz nach, beschäftigen aber für den Aufbau Freelancer zu Dumping Löhnen? Es sind solche Fragen nach Gerechtigkeit und Transformationswegen einer jungen Generation, die in unserer Wendesituation nach Alternativen suchen - getrieben durch Corona, den Klimawandel, die soziale Schere oder den neuen Nationalkonservatismus.
Diese Sichtweisen sollten wir ernst nehmen. Wir brauchen einen neuen Blick auf unsere Geschichte, abseits des Blicks der Mehrheitsgesellschaft. Wir sollten langsam und freundlich anfangen, diese Geschichte selbst zu erzählen. Das geschieht in Alexander Osangs Reportagen, in Filmen und Romanen, auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung, in den Dokumentarfilmserien des MDR, in der Soziologie, in den Büchern von Steffen Mau und den Grass-Root-Initiativen der jungen Ostdeutschen, ihren Podcasts und Twitterforen. Occupy History war und ist der demokratie-stärkende Weg, mit der Situation von 99:1 umzugehen.
Auch die von Westdeutschen gerne als «krawallig» bezeichneten Proteste von Wolfgang Thierse oder Sahra Wagenknecht zählen dazu. Die bedenkliche Variante, darauf zu antworten ist die Systemverachtung der AfD. Auch in ihr kommt ein Fiktionsbruch mit der Leiterzählung unseres Landes zum Ausdruck – ein Bruch mit der Erzählung, dass alle gleich seien, gleiche Chancen hätten, eine gleiche Stimme. All das hat man im Osten nach der Wende anders erlebt.
Die neuen Länder wurden als Entwicklungsländer behandelt, Länder, denen man zeigt, wie es geht – Aufbau Ost eben, was ausblendet, was ihnen zugleich genommen wurde. Westdeutsche Amts-Helfer in den neuen Ländern erhielten eine «Buschzulage», vieles ging in den 90ern zu Bruch, Betriebe, Infrastrukturen, Beziehungen und das war «alternativlos». Diese Kränkung ist bislang nicht Teil unserer Erzählung geworden. Bis heute befragt der Westen den Osten, aber sich selbst in dieser Hinsicht kaum. An diesem Punkt, am dem die Fiktion der Mehrheitsgesellschaft Risse bekommt, setzen die rechten Populisten an. Sie spalten das Land. Sie legen den Finger auf die neuralgischen Punkte des Fiktionsbruchs: den Mangel an Aushandlung, der im Osten nach 1990 stattfand, die verspielte Revolution, die als aufoktroyiert empfundenen Spielregeln des kosmopolitisch ironischen Westens im pathetischen Osten. All diese Herabsetzungen machen sie zu «ihrer» Sache.
Von dem Potenzial der ostdeutschen Revolution von 1989, ihren alternativen Szenarien einer Wiedervereinigung, ihren Netzwerken in Osteuropa, ihren Reformvorschlägen und ihrem Verfassungsentwurf ist letztlich wenig in Erinnerung geblieben. Wir brauchen einen offenen Blick auf die Erfahrungen der neuen Länder, auf die Massenmigration von Ost nach West nach der Öffnung der Mauer, auf die Treuhand-Traumata, auf andere Formen von Malerei, Design, Architektur und Literatur und die neuen Fragestellungen, die dort vor 30 Jahren entstanden sind und immer noch entstehen.
Wenn an der jüngeren Geschichte nichts Positives bleibt außer sächsischem Bürgerfleiß, kehren viele Wähler eben zu noch Älterem zurück: Konzepten des Identitären. Aus ihnen strickt die populistische Rechte ihre neue nationale Erzählung, in deren Zentrum Sprache, Volk und Religion steht. Mit der DDR-Geschichte hat das wenig zu tun, mit den letzten 30 Jahren sehr viel. Dass ausgerechnet die AfD heute «Vollende die Wende» sagt, ist eine bittere Ironie der Geschichte und macht deutlich, wie wichtig es ist, das auf Veränderung zielende Erbe der Revolution von 1989 sowie die komplexen Erfahrungen des Übernommen-worden-Seins nicht den Rechten zu überlassen. Es ist weniger Sachpolitik, mit der die AfD sich positioniert, als vielmehr Identitätspolitik, mit der sie geschickt Herausforderungen wie Generationengerechtigkeit, Migration oder soziale Ungleichheit kulturalisiert. Ihr Kulturkampf von rechts agiert heute wirkungsvoller als der von links nach 1968.
Unsere Leiterzählung vielstimmiger zu gestalten, ist wirklich das Einzige, was mir im Angesicht all dessen alternativlos erscheint. Die Ostdeutschen haben nicht weniger, sondern oft mehr und anderes gelernt als die Mehrheitsgesellschaft. Das verbindet sie mit den Wende-Denkerinnen und -Aktivisten der alten Länder. Die Pandemie hat nicht nur die Stabilisierungs-Schatulle des Finanzministers geöffnet, sondern auch das Denken. Das zeigt sich etwa in den Büchern von Maja Göpel, Benedicte Savoy oder Eva von Redecker, die versuchen, die alte Dominanzgesellschaft zu verwandeln. Sozialpartnerschaftlich, aber partnerschaftlich auch im Hinblick auf Umwelt, andere Kulturen oder historische Erfahrungen und Kompetenzen, wie Migranten sie einbringen.
1990 wurden Entscheidungen grundlegender Art als alternativlos bezeichnet. Das hat sich, insbesondere im Hinblick auf die Treuhand, in den Augen vieler Ostdeutscher als falsch erwiesen. Auch heute gibt es Alternativen zur Klimapolitik, Wirtschaftspolitik, unserer Art zu reisen oder mit der Pandemie umzugehen. Es ist doch erstaunlich, dass es für eine weltweite Pandemie, genauso wenig wie für die Wiedervereinigung, keinerlei Pläne gab. Niemand war vorbereitet.
Das erste, was man damals wie heute in die Hand nahm, war Geld. Geld, das im Rückblick einfach immer zu wenig erscheint - für den «Aufbau Ost» wie für den «Neustart Kultur». Denn Geld an sich ist zu wenig. Wenn es nur ums Geld geht, stellt sich auch hier sofort eine ungute Verbindung zum Wort «alternativlos» ein. Nimm es, sei still. So funktioniert Entwicklung nicht. Erste Hilfe funktioniert so. Sie ist wichtig und ich bin heilfroh, dass es sie gibt. Gegen die Angst vor dem Verlust von Arbeit und Sicherheit hilft das Stabilisierungsgeld, das Trostgeld, das Begrüßungsgeld. Aber langfristig stabilisiert und tröstet es nicht. Es ist Geld für ein wenig Ruhe, für erkaufte Atempausen in einer Zeit, wo die Ideen für Alternativen blühen. Und vielleicht geht da ja doch noch was.
(authors cut)
Der Essay erschien in der Wochenendzeitung der Berliner Zeitung unter dem Titel:
««Aufbau Ost» und «Neustart Kultur»: Trostgeld allein reicht nicht aus»
Wie bereits 1989 versucht man heute, das Trauma der Pandemie mit Geld zu lösen. Das ist zu wenig. Zeit, nach Alternativen zu schauen und vom Osten zu lernen.
Berliner Zeitung online