«Allierte der Welt»

Puppenspiel im Anthropozän

Von Thomas Oberender

Über Puppen sind wunderbare Texte von Kleist, Walter Benjamin und Rainer Maria Rilke entstanden und Sie inspirieren auch bildnerische Kunstwerke wie die Serie «Schauspieler» von Isa Genzken, die animatronischen Figuren von Jordan Wolfson oder Zeichnungen von Hans Bellmer. Es ist keine rein intellektuelle Faszination, sondern etwas Unbehagliches und zugleich sinnlich Anziehendes geht von diesen Geschöpfen aus.

Wieso hat sich David Bowie in seiner künstlerischen Laufbahn immer wieder mit Puppen gespielt und sich als Puppe gezeigt? Mit einer Puppe zu spielen, heißt, eine Alliance mit einem Ding einzugehen. Etwas von uns strömt in es ein und kann sich wie von außen sehen. Man nimmt sich quasi selbst in die Hand, was so in keiner anderen Kunstform möglich ist. Und zugleich ist diese Alliance mit einem Ding etwas, das ein Stück weit hinausführt aus dem rein Zwischenmenschlichen. Wir erhalten in der Puppe einen anderen Körper und werden sein Nebendarsteller, bis zur «eigenen» Unsichtbarkeit. Sichtbar wird ein Leben als Rolle, als Skript, das wir ausführen, aber nicht sind. In dieser Differenz eröffnet sich ein Korridor mit vielen Türen.

Puppenspieler zu betrachten, schenkt die Freude über das Erlebnis einer einzigartigen Exzentrik. Sich selbst als Puppe zu betrachten und zu zeigen, ließ Menschen sich ihren Hut quer aufzusetzen und die rechte Hand in den Mantelschlitz schieben, oder sich eine ultrablonde Perrücke aufsetzen, um auf alles wie die Puppe auf ihrem Kinderbett zu schauen.

Denn mit der Puppe verbindet sich eine seltame Migration des Menschen in etwas Nicht-Menschliches und zugleich unsere erste Berührung mit der Welt. Die Puppe ist das Medium, das Menschen, noch bevor sie zu sprechen lernen, geholfen hat, ein zweites Mal zur Welt zu kommen. Noch vor der Sprache und vor der Begegnung mit der Gesellschaft hilft ihm die Puppe bei der Begegnung mit sich selbst. Das frühkindliche «Ich» bildete sich unter dem Schutz der Puppe, etwas, das wir in den Händen hielten, rochen und fühlten, die Verbindung zur Mutter aufrecht hielt und uns half, das «Draußen» und unser Getrenntsein von ihm zu entdecken. Inmitten dieser Entdeckung ließ sie unser eigenes «Ich» erwachen. Weshalb sich mit dieser Kunstform eine sehr frühe, tiefe Erfahrung verbindet, da sie noch vor der Sprache, dem Tanz, Zeichnen oder Gesang liegt.

Puppen verweisen uns auf uns zurück, ohne uns zurückzuweisen, und das zieht Menschen an. Durch sie wird dieses andere Sein, dieses Sein ohne uns, der Dinge, der Welt neben uns spürbar. In der Puppe geht uns die Welt auf, eben weil sie nichts will, nur ist. Als Menschen wollen wir stets etwas, sind aktiv und von Ideen bewegt, aber im unergründlichen Ausdruck dieses Dings, das nichts zurückweist, können all unsere Gefühle, Gedanken und Probleme stranden.

Der Philosoph Thomas Metzinger beschreibt in seinem Buch «Der Egotunnel» die psychologischen und neurologischen Prozesse, die zum Vorhandensein eines «Egos» in uns führen, also jenes Akteurs mit einem Ich-Gefühl, der uns als Menschen innerlich bespielt, ohne dass wir dieses Regime von außen «sehen» können. In medial erzeugten Bildern ist es der «Glitch», der im Moment der technischen Störung dieses Regime bzw. das Medium selbst sichtbar macht. Das menschliche Denken kennt solche Glitches als Momente psychopathologischer Krisen oder der Ekstase im griechischen Wortsinn des «Aus-sich-heraus-Gehens».

Eine andere Art des «Aus-sich-heraus-Gehens» ist das Spiel mit der Puppe. Leben, das Leben selbst, ist nicht nur eine Vitalfunktion, nicht nur das Wunder des sich selber Weitergebens des Lebens. Denn nur das Leben entwickelte die Fähigkeit, Zukunft aus sich selbst hervorzubringen und einen steten Zuwachs an Anpassung und Intelligenz zu ermöglichen. Leben ist also auch das Vorhandensein einer aktiven Intelligenz, die in allem, was lebt, wirkt, vom kleinsten Virus bis zum «Gaia-System» unseres Planeten. Das Leben, sagte James Lovelock, belohnt diesen Zuwachs an Intelligenz, etwas Magisches vergindet diese zwei Phänomene – Leben und Intelligenz. Das «Aus-sich-heraus-Gehen» des Puppenspielenden, ob es ein Kind ist oder Künstler, belebt das tote Ding der Puppe durch dieses Bewohnt-Werden von menschlicher Intelligenz. Sie beugt sich im Spiel über dieses «Objekt», taucht in es ein, animiert es, und doch verändert sich dabei auch die menschliche Intelligenz durch die Begegnung mit dem Objekt, wird intuitiver und weniger von Reflexionen gehemmt. Das Puppenspiel ist also ein zweifaches «In-etwas-hinein-Gehen». Mit der Puppe schafft sich der menschliche Geist testweise einen zweiten Körper und vice versa verändert die Begegnung mit diesem Körper unseren Geist.

Das Faszinierende am Puppenspiel ist die Evakuierung unseres Geistes in dieses zauberhafte Ding und dessen mediale Wirkung auf uns. Medien sind, wie Botho Strauß bemerkte, «das den Durchschein Verkörpernde.» Ein puppenspielendes Kind kann man ansprechen, aber es antwortet als ein anderes Wesen. Es schaut einen an, flüchtig, und lässt dann die Puppe sprechen. Über vieles, was das Kind vielleicht nicht sagen würde, spricht es zu uns durch die Puppe. Kinder können durch sie, wie später die Puppenspieler, mehr zum Ausdruck bringen, als sie persönlich auszudrücken vermögen oder willens sind.

Dabei hat das Wort «Puppe» umgangssprachlich viele Dimensionen. Die «Verpuppung» ist im Leben der Insekten zum Beispiel die Phase des kompletten Umbaus ihres Organismus. Sich als etwas zu «entpuppen» bedeutet, dass aus einer Larve etwas völlig Neues zutage tritt. Dieses sich «Entpuppen» ist daher ein wesentlicher Vorgang des Puppenspiels – es gebärt auf offener Bühne ein anderes Leben. Es ist nicht das des Spielers und nicht nur das der Puppe, sondern etwas Drittes, zwischen dem Mensch und Nicht-Menschlichem, Leben und Tod, eine reine Form mit uns in der Mitte. Puppen sind Aliens, die Menschen sich geschaffen haben, um aus sich herauszutreten und in einen anderen Körper zu wechseln, der zugleich ihr Körper wird. Er wird geführt von einem Spieler, der nach vielen Jahren der Praxis und der Verschmelzung mit der Puppe in seinem Spiel nahe an den bewusstlosen Zustand des Virtuosen gelangt, für den Körper und Instrument eins geworden sind.

Der britische Soziologe Richard Sennett beschreibt in seinem Buch «Handwerk» diesen Vorgang als Immersion. Sennetts «zehntausend Stunden-Theorie» geht von der Beobachtung aus, dass nach rund zehntausend Übungsstunden das Handwerkszeug eines Virtuosen ein «Teil» seines eigenen Körpers geworden ist. Der Umgang mit ihm funktioniert ohne dazwischengeschaltetes Bewusstsein. Virtuose Pianisten oder Pianistinnen sind nicht mehr mit der Technik ihres Spiels beschäftigt, sondern können die Musik «direkt» spielen und gestalten. Beim Puppenspiel ist dies nicht anders. Es basiert auf dem Eintauchen des Menschlichen ins Nicht-Menschliche, in ein Objekt, das «Teil» seines Körpers wird. Ohne das Dazwischenfunken reflektierender Gedanken wird der künstlerische Impuls unmittelbar zur Tat – was, Kleist zufolge, die einzigartige Grazie des Puppenspiels hervorbringt.

Es ist kein rein zwischenmenschliches Spiel, nichts, das sich wie beim traditionellen Literatur- und Sprechtheater vollständig in der Sphäre des Sozialen auflöst, sondern eine Verbindung zwischen Menschen und Dingen, in dem der Mensch dem Nichtmenschlichen folgt und als Spielender eine Nebenfigur der Puppen wird. Die Philosophie der objektorientierten Ontologie formuliert das Konzept einer «Ding-Macht» oder der agency von Objekten, das die amerikanische Politikwissenschaftlerin Jane Bennett mit dem Begriff der «lebhaften Materie» beschreibt. Angewandt auf das Puppenspiel oder Objekttheater ist dies zunächst die Erfahrung der Gravitation, die auf das Objekt einwirkt. Puppenbauer und Puppenspieler machen mit der agency des Objekts, ähnlich wie Jongleure, eine sehr intensive Erfahrung.

Die Puppe hilft uns, dieses unentrinnbare «Ich», das sie uns in der frühesten Kindheit zu bilden half, später wieder momentweise zu verlassen. Sie ist das Übergangsobjekt nicht nur bei der Reise von der Mutter zum Ich, sondern auch der Reise des «Ich» in die Welt des Nicht-Menschlichen. Die Puppe ist nie nur ein Medium für das Ego des Menschen, sondern bringt ihre eigene Welt ein. Sie verführt den Menschen, seine Souveränität im Spiel mit ihr für Momente aufzugeben und einzugehen auf ihre Wirklichkeit, ihr Gewicht, Material, ihre Beweglichkeit und Aura. Es passiert nicht oft auf der modernen Bühne, dass Menschen mit etwas spielen, das nicht wiederum Menschen sind oder zeigt. Dabei erfahren wir gerade sehr intensiv, wie stark das Nichtmenschliche unser Leben prägt.

Corona-Viren haben globale Verkehrsströme zum Erliegen gebracht und fast sieben Millionen Menschen das Leben gekostet. Wir leben in einer Multi-Species-Welt, die ihrerseits Intelligenz besitzt und aktive Verwandlungen herbeiführt. Der Egozentrik des Anthropozäns hat das, wie der von ihm bewirkte Klimawandel, einen Stoß versetzt und intensivierte unsere Aufmerksamkeit für die Begegnung des Menschen mit dem Nichtmenschlichen. Andere Lebensformen, nichtwestliche Kulturen und das sich abzeichnende Entstehen einer tatsächlichen Künstlichen Intelligenz haben die zeitenössische Kunst stark verändert. Und dies verändert auch meine Wahrnehmung des Puppenspiels und seines vormodernen Wissens, demzufolge sich der Mensch nicht ins Zentrum der Welt rückt, sondern ihr Alliierter ist. Die Charakter-Typen und Stilisierung des Puppenspiels weisen weg vom modernen  Individuum und brechen den Anthropozentrismus der Bühne auf, denn hier kann alles spielen – Sterne und Steine, Tiere und Pflanzen, Menschen und Geister.

Das Puppenspiel ist eine vormoderne Technik im Sinne von techné, also einer «Kunstfertigkeit» oder eines «Geschicks», das eigene Ich zu modellieren. Dieses Eintauchen des Geistes in einen anderen Körper und dessen Verbindung mit uns schaltet unser privates Ego im Sinne Sennetts oder Kleists für einen Moment aus und lässt es in der Begegnung mit der Welt der Dinge, der Schwerkraft und einem anderen Regime von Leben zerfließen. In der Puppe entthront sich der Mensch auf wohltuende Weise, und das tut unserem Zeitalter und uns gut.

Auszug aus: «Puppenspiel im Anthropozän. Über die Ding-Macht der Puppe, Stars und Avatare» (In: «Puppe 50», Theater der Zeit, Berlin 2023)