«Der Aufbruch der Ostdeutschen hat nie das ganze Land erreicht»

Interview von Alem Grabovac 

Thomas Oberender leitet die Berliner Festspiele – und sagt, dass den Ostdeutschen ihr Stolz und ihre Biografien genommen wurden. Tilman Mayer ist Politologieprofessor in Bonn – und findet, dass die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte ist. Ein Streitgespräch. 

Wo waren Sie am 9. November 1989, als die Mauer fiel?

Thomas Oberender (TO): Die Mauer ist ja nicht gefallen, sie wurde durchbrochen. Ich habe die Küche renoviert. Im Fernsehen kamen auf einmal diese unverständlichen Mitteilungen, dass die Leute auf der Mauer tanzen. Ich erwartete in Ost-Berlin den Besuch meines Vaters aus Thüringen. Er war in all dem Trubel stecken geblieben. Als er ein paar Stunden später meine Wohnung erreichte und wir endlich loslaufen konnten, kamen uns schon Leute im Schlafanzug entgegen.

Tilman Mayer (TM): Ich war damals in Franken, und wir wollten nach Passau fahren. Am nächsten Morgen sah ich die ersten Trabis in Würzburg. Das war natürlich schon ein unvergessener, spektakulärer Moment.

Weshalb, Herr Oberender, sagen Sie, dass die Mauer nicht gefallen sei?

TO: «Der Fall der Mauer» klingt passiv, als wäre das von selbst passiert und identisch mit dem Wunsch nach Wiedervereinigung. Aber für die Revolution im Osten spielte die deutsche Wiedervereinigung zunächst gar keine Rolle. Es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen der Perspektive des 9. November 1989 und des 3. Oktober 1990. Am 9. November ist etwas Unglaubliches passiert, es gab eine ganz kurze Wellengleichheit zwischen der Volksbewegung und der Oppositionsbewegung, jener Bürgerbewegung der 1.000 Aufrechten, die in der DDR die Gesellschaft neu organisieren wollten. Die Volksbewegung wollte bald darauf nur noch den Wohlstandsanschluss. Wer die Nachwendeentwicklungen von Hoyerswerda bis Chemnitz und Köthen verstehen will, kann von dieser Wende, der Wende zwischen dem 9. November und dem 3. Oktober, viel lernen. Wie konnte aus dem Zustand eines gesamtgesellschaftlichen Lächelns, einer gemeinsamen Euphorie in Ost und West eine ganz andere Dynamik entstehen, in der man nicht länger auf Augenhöhe vereint war, sondern der östliche Teil der Bevölkerung zu einer Art Nachhilfeschüler wurde?