«Orestes Rückkehr»

Thomas Oberender im Gespräch mit Romeo Castellucci über seine Produktion «Ma» in Elefsina, seiner Vision des Bildes, der Blasphemie und Eleusinischen Mysterien.

 

Die Eleusinischen Mysterien waren bis zu ihrem Untergang im 4. Jahrhundert n. Chr. ein 1100 Jahre währender Staatskult Athens. Dieser Kult für die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter und ihre Tochter Persephone gilt als der berühmteste und zugleich geheimste religiöse Ritus des antiken Griechenlands. Seine Heiligtümer in Eleusis, dem heutigen Elefsina, waren ein Ort der Wallfahrt und Verwandlung. Im Zentrum des Großen Mysteriums stand die Rückkehr Persephones aus der Unterwelt. Der Eingang zum Hades, benannt nach dem Herrscher des Totenreiches und des Entführers von Persephone, war Teil der Tempelanlagen. Nach mehreren Tagen der reinigenden Vorbereitung und einer Nachtwache nahmen die Initianten in der großen Halle ein spezielles Getränk, Kykeon, zu sich. Es wurde von Priestern u.a. aus Gerste und Mentha Pulegium gefertigt, was zu Vermutung führt, dass es auch LSD-haltiges Mutterkorn enthielt. Im Laufe von zwei Jahrtausenden verfeinerten Generationen von Priestern diese drogenbasierte Technologie der Bewusstseinserweiterung und Überschreitung der Schwelle zwischen Leben und Tod. In gewisser Weise war dieser Trank das Ayahuasca der europäischen Indigenen, jener Griechen, deren Denken, Frömmigkeit und Kultpraxis den Ursprung unserer westlichen Kultur bildeten. Aischylos, der in Eleusis geboren wurde, trank Kykeon, ebenso Sokrates, Platon, viele römische Kaiser, Sklaven, Menschen aller Geschlechter, Bürger und Ausländer. Nur Muttermörder und Barbaren, also Menschen, die kein Griechisch sprachen, waren von der Zeremonie ausgeschlossen. Die Übertretung dieses einstigen Gebots ist der Ausgangspunkt für Romeo Castelluccis Inszenierung von «Ma» in den Ruinen der heiligen Stätten von Elefsina. «Nur durch Sakrileg kann das Heilige reaktiviert werden», schreibt die Dramaturgin Lucia Amara über dieses Projekt auf der Website von Castelluccis Companie Societas. An elf Tage wandert das Publikum zusammen mit Tänzern und Musikern durch die verlassenen Kultstätten und entdeckt Castelluccis Vision von der Lebendigkeit und Bedeutung dieses Ortes. Elefsina ist 2023 Kulturhauptstadt Europas, zusammen mit Timișoara in Rumänien und Veszprém in Ungarn.

 

Thomas Oberender: Es gibt ein Foto von Ihnen auf der Website des «Genesis»-Projekts der Universität von Thessaloniki, das Ihre Aufführung dokumentieren wird. Es ist das einzige Foto von Ihnen im Heiligtum von Eleusis, das ich finden konnte.

Romeo Castellucci: Das Foto kenne ich nicht.

Es wurde vor dem vermauerten Eingang zum Totenreich aufgenommen. Noch immer legen dort Menschen Blumen für ihre Verstorbenen nieder. Vor dem Zugang zum Hades.

Ah, ja, am Plutonion.

Warum entstand das Foto gerade dort?

Wegen der Höhle. In einer Höhle passieren andere Dinge. Die Höhle ist eine Gruft. Die Höhle ist ein Mutterleib. Ich mag diese Art von Ort. Sie steht für etwas, das fehlt. Sie ist eine Öffnung. Kein Objekt. Mir gefällt das. Eine Höhle weist auf einen Mangel hin, etwas Abwesendes. Ich mag diese Leere. Es ist auch eine Art via negativa. Und ich glaube, wie Hans Blumenberg sagte, dass der erste Künstler eine Frau war, also eine Künstlerin. Paläontologen zufolge blieben Frauen in der Frühgeschichte an Ort und Stelle, während die Männer auf die Jagd gingen. Sie fütterten die Kinder und entwickelten eine andere Art von Macht, sagte Blumenberg - sie erfanden die Fantasie. Sie haben die Geschichte ihres Stammes erzählt. Und Frauen erfanden nicht nur die Kunst, sondern auch die Religion. Nur Frauen kennen das Geheimnis des Lebens. Das Gebären ist etwas Geheimnisvolles. Und es war sicherlich auch eine Frau, die das Begräbnis erfand.

Mit Demeter und Kore (Persephone) standen in Eleusis zwei Frauen im Mittelpunkt der Mysterien.

Das stimmt, aber wissen Sie, es gibt noch eine andere Figur. Einen Mann, Eubuleo. Er war ein Hirte, noch sehr jung. Er hütete die Schweine auf dem Feld, als er der Zeuge der Entführung von Persephone durch Hades wurde. Später, so berichtet der Mythos, gründet dieser Eubuleo die Eleusischen Mysterien.

Was waren Ihre Beweggründe, dieser Einladung zu einer Produktion in Elefsina zu folgen?

Es ist unmöglich, zu einem solchen Vorschlag «nein» zu sagen. Als Student war Eleusis für mich der Ausgangspunkt, der entscheidende Punkt von allem. Es ist der Anfang - in meiner persönlichen Arbeit, aber auch für die westliche Kultur. Eleusis ist der Ursprung. Wahrscheinlich wichtiger als das Theater des Dionysos. Der Ursprung ist hier. Mich erreichte diese Einladung daher wie ein Ruf. Nicht der Ruf von jemandem, sondern als Ruf dieses Ortes. Eleusis ist nicht aus irgendwelchen archäologischen Gründen wichtig, nein, es ist der Ursprung, die Quelle, auch heute noch. Dorthin zu gehen ist ein perfektes Rendezvous mit dem Theater.