«Wie geht das: Sterben?»
Thomas Oberender
Wie geht das: Sterben? «Die Menschen gehen, die Dinge bleiben», heißt es in dieser Oper. Das Unbegreifliche - die Passage vom Leben zum Tod und zurück, von den Geistern ins Reich der Lebenden - nicht im Halbdämmer oder Zwielicht zu zeigen, sondern im gleißend hellen Licht eines riesigen Scheinwerfers, der unmerklich langsam unterhalb des Portals im Verlauf des Stückes von rechts nach links über die gesamte Bühnenbreite wandert und immer die Mitte der Szene ausleuchtet, ja, fast ausbrennt, ist eine richtige und starke Entscheidung. Denn dieses Werk ist gefühlt natürlich eher ein Nacht-Stück, ein Traumspiel, das von den Unschärfen und Übergängen lebt, die es auf der Ebene der Erzählung aber auch der Musik erzeugt. Deshalb ist Georg Friedrich Haas ein idealer Komponist für diesen Stoff – feine mikrotonale Schwankungen, das Ineinandergleiten der Akkorde und akustischen Unschärfeerfahrung erzeugen jenes sinnliche Gleiten der Realität, das die Handlung in Jon Fosses in seinem Roman ausmacht. Der Autor hat dafür eine ungewöhnliche erzählerische Konstruktion geschaffen: Der erste, sehr kurze Teil des Buches ist Bericht des alten Olai über Geburt des kleinen Johannes, hingegen der zweite Teil des Romans eben dieser Junge, der am Anfang auf die Welt kam, staunend sein aus-der-Welt-Scheiden erlebt.
Wie Klaus Maria Brandauer den alten Mann Olai über die Geburt des Jungen sprechen läßt, über die Empfindungen des Neu- oder gerade-Geborenen, dessen Mutter und all jene Figuren, die später im Lebensabend-Film des Sterbenden wieder auftauchen – dies ist Satz für Satz mit äußerster Genauigkeit in die Klangwelt des Komponisten hineingesprochen. Er achtet genau auf die Töne sowohl der Sprache wie auch der Streicher und trifft perfekt die jeweilige Stimmungslage, die ja bei Jon Fosse von Satz zu Satz springt. Durch die Pausen, wenn die Rede jäh abbricht, dann wieder tastend weiterspricht, schafft Klaus Maria Brandauer Brüche und Wechsel, die eine vom Stocken und Neuansetzen der Sprache gesprägten Situation erzeugen. Dieser alte, kräftige Mann, der über eine lange Zeit ganz allein auf der Bühne sitzt und in die Klangwolken hineinspricht wie zu alten Bekannten, artikuliert seine Sätze mit einer entdeckungsoffenen Kindlichkeit und ist völlig durchdrungen vom wiedergefundenen Wundern über die Welt - nicht, dass die Erinnerungen mit ihm durchgehen, sondern er geht die Erinnerungen durch, tastend, in allen Valeurs und Intensitäten, ein weise gewordener Weißhaariger, der aus dem Staunen nicht mehr rauskommt.
Die sehr, vielleicht sogar zu vorsichtige Inszenierung dieser Totenreise fügt der Partitur und dem Text selber kein eigenes erfinderisches Mittel hinzu. Sie könnte das Abenteuer der Passage, des Traums und Rausches, wie sie die Musik und das Libretto vorlegen, im Raum und den Bewegungen der Figuren frei gestalten, hält sich aber lieber an das Buchstäbliche und bemüht sich, sauber und luzide zu wirken, wasdann doch ein bemerkenswerter Kontrast zu einem Stück ist, das die Welt aus der Position des Staunens sieht, des Unverständnis’ und der Selbsttäuschung, die den Betrachter eben durch diese Verwirrung des Geistes und Lebensstatus der Figuren im Saal sehen macht und tief berührt. Denn das Stück ist, obgleich es vom Tod und Unbewissen handelt, alles andere als esotherisch und vage, vielmehr zeigt es detailliert Situationen eines bestens bekannten Alltags, der langsam und verwirrend ins Unheimliche hinüberwächst oder abrutscht, je näher der Held dem Tode entgegen geht: So trifft Johannes auf dieser Passage ins Licht seinen besten Freund, der ihm seit Jahrzehnten die Haare schneidet, oder geschnitten hat, wieder wie im Leben, obwohl er doch bereits gestorben ist. «Ich habe ein bisschen Körper bekommen», sagt sein Freund zu ihm, «damit ich dich holen kann.» Johannes trifft auch seine Frau, die ihm wie immer Kaffee gekocht hat, aber plötzlich nicht mehr antwortet, obwohl sie doch gerade noch mit ihm gesprochen hat.
All dies ist nicht nur ein szenischer Vorgang aus Bewegungen und Bemerkungen, sondern die Oper erzählt dies in Form von Klangverschiebungen, die sich immer wieder auch als Schocks und feines Klirren und Zwirbeln, ausgelöst von zwei vorgelagerten Schlagwerkinseln seitlich im Parkett, auf den Beobachter übertragen, weil er geradezu mittendrin sitzt in diesem Klangwogenwerk. «Alles, was du liebst, ist dort», sagt sein Freund, der Bote und Begleiter zu Johannes über das Ziel der Reise, auf die er sich begeben hat, ohne es recht zu merken – dieser Jedermann von heute, der über genau das spricht, wovon Hoffmannsthal damals nur wenig berichten wollte.
Dieses Stück schafft eine Trance – es setzt schon im Arrangement der Ereignisse alles daran, die Trennung zwischen «hier und dort» aufzulösen und will die Zuschauer akkustisch und durch die Blicke in den Saal direkt mitnehmen auf diese Reise in die Zone zwischen Leben und Tod. «Die Dinge», heißt es ganz zu Beginn im Libretto von Jon Fosse, «stehen da so schwer von allem, was gewesen ist und zugleich so leicht». Wer diese Sätze von Klaus Maria Brandauer gesprochen hört, der ist schon unmerklich mitgenommen worden – hinüber in diese andere Weltlage, in die Vorgeschmackssphäre der Kunst, die mit aller Behutsamkeit, Satz für Satz die Loslösung vom Hier und jeder Form von Nachbarschaft vorantreibt und einen lyrischen, seelischen Stimmungsraum schafft für ein Begreifen von Dingen, für die unsere Sprache ein zu grobes Werkzeug ist. Hier hilft die Musik, hier hilft der Mut und die Reife von Komponisten und Interpreten, ganz unsentimental über die größte Sache des Lebens zu sprechen: Seinen Anfang und sein Ende.
«Morgen und Abend», Musiktheater von Georg Friedrich Haas nach dem Roman von Jon Fosse // DE an der Deutschen Oper Berlin // Regie: Graham Vick // Musikalische Leitung: Michael Boder // Klaus Maria Brandauer als Olai
Beitrag vom 10.05.2016.