«Die Pausentaste der Geschichte drücken»
Gespräche über Revolution und Wiedervereinigung im Palast der Republik 2019
Occupy History ist der Versuch, sich nicht von ‚der‘ Geschichte besetzen zu lassen, sondern selbst Geschichte zu erzählen. Die symbolische Wiedereröffnung des Palastes der Republik im Berliner Westen 13 Jahre nach seiner Zerstörung im Berliner Osten schuf dafür einen symbolischen und spielerischen Raum. Dieser im Haus der Berliner Festspiele in Wilmersdorf auferstandene Palast war Teil der Projektreihe «Immersion», die sich mit Phänomenen des Eintauchens und der Auflösung klassischer Gegenüberstellungen wie Betrachter und Kunstwerk, Natur und Technik, Produktion und Konsumtion beschäftigt. Immersion, so der Grundgedanke, lässt Grenzen verschwinden und macht das Offensichtliche unsichtbar, eben weil es so selbstverständlich wird wie dem Fisch das Wasser, das für ihn, so das berühmte Beispiel Marshall McLuhans, schlicht nicht da ist, solange er in ihm ist. Die falschen Selbstverständlichkeiten der Schubladenbilder vom ‚Osten‘ und ‚Westen‘ werden nur durch Interventionen spürbar, die das ‚Wasser‘, in dem wir uns sonst ganz selbstverständlich bewegen, mit fremden Ideen und Gefühlen versetzen, oder – um im Bild zu bleiben - den Fisch ganz unversehens aus dem Wasser heben.
Der Begriff Occupy History erinnert an Besetzerbewegungen wie Occupy Wallstreet oder Occupy Museums, die sich aus einer Gruppe um Noah Fischer gegründet hat, d.h. an Demonstrationen und temporäre Belagerungen des öffentlichen Raums. Die Gesprächsreihe Occupy History, die Teil der Veranstaltungen im reanimierten Palast der Republik war, zielte auf einen gedanklichen Raum, der von einer als fremd empfundenen Ordnung unserer Erinnerungen geprägt ist. Die Erfahrung vieler Ostdeutscher ist - sowohl im Hinblick auf die Revolution von 1989 wie auch ihrer Folgejahre - grundverschieden von der vieler Westdeutscher und nicht adäquat eingegangen in unser öffentliches Nachdenken über die politischen Entwicklungen nach der Wiedervereinigung. Wenn über die Situation im Osten damals und heute gesprochen wird, dann überwiegend mit der Logik und Sichtweise westdeutscher Journalisten, Politiker und Forscher. Deren Perspektive ist oft von besten Motiven geleitet, gleichzeitig entsteht ein ‚über‘ die anderen sprechen, das ein Gefälle und auch eine Haltung erzeugt, die auf Seiten der Besprochenen als bevormundend empfunden wird. Occupy History ist daher der Versuch, Stimmen hörbar zu machen, die diese paternalistische ‚Selbstverständlichkeit‘ hinterfragen, von Neugierde und anderen Sichtweisen geprägt sind und den gedanklichen Raum mit anderen Erfahrungen füllen.
Auch bei Occupy History führt die symbolische Relation von 99:1 zum Nachdenken über gesellschaftliche Entwicklungen, die dreißig Jahre nach der Wiedervereiniugn zum Beispiel nur ein Prozent Ostdeutscher in Leitungspositionen unseres Landes gebracht haben, hingegen 99 Prozent der Entscheidungsträger Deutschlands einen westdeutschen Hintergrund haben. Diese Repräsentations-Kluft manifestiert sich auch zwischen dem Geschichtsbild, das von westdeutsch dominierten Medien, Hochschulen oder politischen Strukturen geprägt wird und in das die ostdeutschen Erfahrungen wenig Eingang finden.
Occupy History erzählt vor diesem Hintergrund in wenigen Einzelstimmen vom Reichtum der Neuansätze und Experimente der «offenen Jahre» rund um die Revolution von 1989. Ihre Utopien und Hoffnungen werden inzwischen von rechten Populisten beerbt, die dreißig Jahre später bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland mit dem Slogan «Vollende die Wende» werben. Heute sind es Europagegner von rechts, die aus der Erinnerung vieler Ostdeutscher an ihre eigene Revolution und die alles durchdringende Stimmung von Aufbruch und demokratischem Neubeginn eine neue Systemfrage machen. Sie bezieht ihre Energie weniger aus der Erinnerung an die Protestbewegung, als an die Massenentlassungen, Betriebsschließungen und den großen Ausverkauf der Immobilien, Grundstücke und Betriebe in den frühen 90er Jahren. Die Selbstverständlichkeit, mit der heute vom «Fall der Mauer» und vom «Aufbau Ost» gesprochen wird, ist vor diesem Hintergrund besonders fatal, weil sie auf einer unbewussten Ebene die positiven und wertestiftenden Erfahrungen der erfolgreichen Revolution von 1989 im Stil einer passiv empfangenen Befreiung beschreibt, wie auch die traumatische Erfahrung von Millionen Menschen, die sich mit der hastigen De-Industrialisierung ganzer Regionen im Osten verbunden hat, weiterhin ausblendet.
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