«Rolls Rois»

No Service. Laudatio auf die Schauspielerin Sophie Rois zur Verleihung des Eysoldt-Rings 2017

Die Schauspielerin Sophie Rois war 25 Jahre bei der Volksbühne. Sie arbeitete mit Castorf, Schlingensief, Kresnik, Marthaler, Fritsch und Pollesch. Als sie nach ihrem Abschied von der Volksbühne ein Angeobt von Ulrich Khuon ans Deutsche Theater bekam, hat sie gesagt, dass das keine gute Idee sei, weil sie wahrscheinlich nicht bieten kann, was man von einem Ensemblemitglied erwartet. »Ich kann keinen Service leisten, ich bin nicht einfach für alles einsetzbar. Dieser Pluralismus im Sinne von: Heute interessierst du dich bitte für dieses und morgen für jenes – das kann ich einfach nicht.»

Sophie Rois ist für mich eine der reellsten Künstlerinnen auf der Bühne, die ich kenne. Nicht, weil sie dort wie «im Leben» spielt, sondern eher ein bisschen drüber ist, intensiver, geistesgegenwärtiger. Auf der Bühne legt sie richtig los und ich glaube, sie trägt ihr Kinn, wenn sie Theater spielt, oft ein wenig erhobener als die meisten Menschen im Leben, weil es Übersicht braucht, wenn es intensiv wird.

In einem Interview über ihre Zeit an der Schauspielschule las ich, dass ihr diese Übungen, bei denen man ganz persönlich sein sollte, bei denen man das ausdrücken soll, was in einem ist, der blanke Horror waren. «Aber gab man mir eine Krone und ich konnte sagen: ‚Werft ihn den Krokodilen vor!‘, damit konnte ich was anfangen.» Unter dem Interview stand der Leserkommentar «Rolls Rois» und das fasst gut zusammen, wie Sophie Rois spielt, eben mit erhobenem Kopf. Opferrollen liegen ihr nicht. Sie wäre keine Rose Bernd. Aber ein toller Bernd Rose. Ja, warum nicht aus der Haut fahren, warum nicht die Bühne dafür nutzen; und warum nicht, statt innerhalb bestimmter Grenzen zu spielen, mit den Grenzen selbst spielen. Mit den Grenzen des Geschlechts, des Erlaubten, des Gekonnten, des Solidarischen, des Verständlichen. Mir schien, innerhalb dieser Grenzen war es Sophie Rois zu langweilig, zu gutmenschlich. Ihre Figuren haben das gesamte Spektrum unserer kulturellen DNA: Sie haben ihre Wurzeln in den amerikanischen Melodramen der Vorkriegsjahre, in den Songs von Nick Lowe, in Stummfilmgesten und im Glamour des Varieté. Mit dem Überschreiten der Grenzen einer psychologisch schlüssigen oder von ihrer Psyche vielmehr eingeschlossenen Figur befreit sich Sophie Rois als Künstlerin und mit ihr jede ihr gegebene Rolle.

Leute, die sich auskennen, sagen, dass Sie, liebe Sophie, eine extreme Bühnensicherheit haben. Nie, so fühle ich das selbst, würde man Sophie Rois mit einem Texthänger hilflos in der Szene verenden sehen. Sie wüssten sich zu retten. Notfalls fragen Sie halt laut die Souffleuse, auch das ist reell. Und durch Gesten wie diese wird das Theater als Veranstaltung selbst eine reelle Sache, eine gemachte Wirklichkeit, die nichts nachmacht, sondern selber etwas ist. In dieser verabredeten Welt ist Sophie Rois scheinbar angstfrei und hemmungslos. Hier kann sie die Sprache anders behandeln, spreizen, nuancieren und aufladen als sie das als Figur auf der Leinwand tut. So entstehen im Theater diese Roisschen Wesen, die äußerst konkret denken und handeln und doch alles verrücken. Sie hat keine Angst davor, dass «etwas passiert». Ganz im Gegenteil liebt sie offenbar die Herausforderung, dass man auf der Bühne, zumindest auf der Volksbühne, die 25 Jahre ihre Bühne war, sein Gegenüber nie ganz berechnen konnte.

Aus der ersten Rolle an der Berliner Volksbühne, für die sie besetzt war, ist sie ausgestiegen und das war für ihre Entwicklung zur selbstbewussten Künstlerin vielleicht nicht das, was sie sich zum Start gewünscht hat, aber wichtig. Sie ist als Schauspielerin nicht nur Material, nicht nur Verkörpernde, sondern auch Schöpferin, die eigene Impulse für das Bühnenbild gibt oder mit René Pollesch improvisierend den Stücktext selber mit entwickelt. Es muss auch für sie «stimmen» – die großen Regisseure, bei denen sie spielte, Castorf, Schlingensief, Bondy, Marthaler, Fritsch und Pollesch, waren künstlerische Partner, für die sie sich entschieden hat und denen sie ihren klug eskalierenden Sound, das Hinterland ihrer Ideen, Bezüge, ihre Entflammbarkeit und Kompetenz in allen irdischen Fragen zur Verfügung stellte. Ihre Rollen in Schlingensiefs «Schlacht um Europa» und «Rocky Dutschke», in «Die (s)panische Fliege» von Herbert Fritsch, dem «Pariser Leben» von Christoph Marthaler, den «Diktatorinnengattinnen» von René Pollesch und Frank Castorfs «Faust» erzeugen für mich die Kometenspur der jüngeren Volksbühnengeschichte. Hauptsache, es wird intensiv.

Menschen wie David Bowie oder Peter Handke hadern bzw. spielen oft mit ihren sozialen und beruflichen «Rollen», und in ihrer Gegenwart lernen wir, uns auf Überraschungen vorzubereiten, auf eine andere Form von Wert, Sexualität, Schönheit oder Sinn. Künstler*innen wie sie, und zu ihnen zähle ich Sophie Rois, sind keine «Kreativen» im Marktsinn, sondern kreativ in einer Weise, die es schwer hat in der Gesellschaft. Sie passen nicht hinein. Sie bezeichnen und zeigen, wie James Carse sagt, «die Rollen der Gesellschaft als theatralisch, ihre Stile als Posen, ihre Kleidung als Kostüme, ihre Regeln als Konventionen, ihre Krisen als arrangiert, ihre Konflikte als vorgetäuscht und ihre Metaphysik als ideologisch.»

Das Dramatische ist das Überraschende, das die theatralischen Spiele durchbricht, indem es nicht in diesen Codes, Kostümen und Konventionen spielt, sondern mit ihnen – sie aufgreift, sichtbar macht und auflösen kann zugunsten einer Freiheit, die im Leben scheinbar sonst zu finden ist. Vielleicht ja aber auch ganz leicht. Und manchmal geschieht das sogar auf dem Theater. Wenn ich Sophie Rois spielen sehe, dann sehe ich sie mit diesem «Theater» spielen aufgrund ihrer Fähigkeit, aus der vorgesehenen Einrichtung heraus zu treten und etwas Überraschendes zu tun. Sie hat, was zum Genie ihrer Arbeit zählt, es zäh und kompromisslos immer mit denen gehalten, die solche Öffnungen im Theater des Theaters zuletzt hervorgebracht haben – Castorf, Schlingensief, Pollesch. Wobei mir eine andere Stelle ihres letzten Interviews einfällt: «Mir imponieren Kulturen, die das Spiel der Geschlechter stark kultiviert haben. Wenn die in Italien miteinander tanzen, Paartanz – das ist so schön, weil die geschlechtliche Spannung aufgehoben ist in einer Form. Und egal, wie die Leute beschaffen sind und wie sie aussehen, sie sind schön. Es ist die Form, in der sie sich bewegen, die ihnen diese Würde gibt.»

Wenn ich Sophie Rois Grandezza auf der Bühne sehe, denke ich unweigerlich an die Rolle der Norma Desmond in Billy Wilders Film «Sunset Boulevard» - speziell an deren letzten großen Auftritt, nachdem sie des Mordes überführt wurde. Wie soll sie mit ihrer Verhaftung umgehen, den Journalisten und Polizisten? Und so überrascht und erlöst es sie und auch alle Umstehenden, als ihr Butler Max, der am Fuße der imposanten Treppe zwischen zwei Kameras steht, plötzlich die großen Filmscheinwerfer einschalten lässt und ihr zuruft: «I am ready, Norma.» Vom gleißenden Studiolicht in Blick und Haltung verwandelt, fragt sie wie im Traum: «What is the scene? What am I?» Der Mann zwischen den Scheinwerfern überlegt kurz und ruft entschlossen: «This is the staircase of the palace!», und daraufhin begreift sie: «Oh yes, yes», sagt sie, «down below they are waiting for the princess.» Beiläufig reicht sie ihr Tuch hinter sich und schreitet, majestätischer als je eine Diva zuvor, die Treppe hinunter.

Wie Norma Desmond am Ende ins letzte Close-up ihres Lebens tanzt, sieht etwas von der Irrealität, dem Wahn, aber auch dem Trost und der Freiheit, die dem Leben durch den Sieg einer Form gestiftet wird, die nciht privat wurde, nie authentisch im unguten Sinne, sondern vollendeter Stummfilm und, etwas mehr. Ihre Art zu spielen verbindet angstfreie Intelligenz und sichere Form, Ihr Spiel und ihre Stimme sind rau und fragil zugleich und entwickelte über die Jahre eine disparate Tonalität. Sie ist auf der Bühne und auch im Leben nie banal, wie jedes ihrer Interviews zeigt. Durch ihre Empfehlung lese ich dann Bücher von Wolfgang Pohrt über Honoré de Balzac als Geheimagent der Unzufriedenheit oder schaue auf die Filme von Schlingensief nochmal neu. Warum gibt es kein Interviewbuch mit ihr? Weil sie noch so viel zu zeigen hat.