«Für ein esoterisches Theater»

Von Thomas Oberender

Im Grunde ist Corona eine Art von biologischem Aktivismus. Das globale Virus funktioniert wie Aktionen von Occupy oder extinction rebellion, die in New York oder Berlin die Straßen lahmlegen. Und in dieser zwangsvollstreckten Pause entsteht fast wider Willen eine andere Art von Gespräch. Dass eine komplette Gesellschaft von diesem Gespräch erfasst wird und in eine Art Generalaussprache verwickelt wird, die alle Lebensbereiche erfasst, die Wirtschaft, das Gesundheitssystem, die Kultur, das passierte meiner Erinnerung nach zuletzt während der Revolution von 1989 – auch sie hat die Pausentaste gedrückt. Bevor der Einheitsvertrag, der Beitritt kam, gab es kollektive und experimentelle Praxis der Ostdeutschen, ihre gesamte Gesellschaft neu zu denken. Danach kam das Alte. Und auch jetzt ist es so, dass ein einfaches «zurück» zur Vielfliegerei und zur Maximalausbeutung der Erde und unserer eigenen Arbeitskraft nur als Verlockung erfunden wird, auch wenn sich gleichzeitig Zukunftssorgen melden.

Keine Gewerkschaft, kein Fundamentalismus und auch nicht Teenager im Verständnis von Jon Savage haben diese Unterbrechung unserer Produktions- und Lebensroutinen bewirkt, obgleich sie es als einzige genaus so gefordert haben. Was wir Menschen, Tieren, Landschaften und dem gesamten Ökosystem antun, kommt in der Krise zur Sichtbarkeit und zur wahren Empfindung. Weltanschaulich war Corona die erste planetarische Katastrophe, die ich erlebt habe. Ebola blieb in Afrika, SARS wirkte weniger aggressiv, aber Covid19 erfasst alle Kontinente. Diese Pandemie wurde zum Entwicklerbad neuer Weltbilder und ästhetischer Strategien, die das Problem der Repräsentation oder Authentizität völlig anders handhaben, die z.B. «esoterischer» in einem speziellen Sinne werden, da sie Technologie und Spiritualität, das Biologische und Enhancement des Körpers und Geistes in die szenische Arbeit einbringen, ihre Figuren also aus anderen Substanzen schaffen, Narrationen in nichtphysischen Räumen und Zeitordnungen entwickeln und plötzlich auch Dinge, andere Spezies, Elemente und Systeme als gleichberechtigte Akteure begreifen.

Etwas Besonderes geschah: Aus den vielen, zeitgleichen Regungen des Neuen löste sich in der postinternet-Generation erstmals auch ein erkennbar werdendes Interesse an einem anderen Gebrauch des traditionellen Theaters heraus, das von einer «esotherischen» Neugier am Theater als großer experience machine gebrägt ist und nicht so sehr der traditionellen Fokussierung auf Text und Bildern beruht, als auf der Tatsache, eine Art ritueller Ort zu sein.   

Mit den Lock Downs entstand in der Theaterszene eine Umkehrung des Einflusses, wie ihn die Digitalisierung als technologieinduzierte Verwandlung unseres Weltbildes und unserer Produktionsgewohnheiten seit langem bewirkt hatte. Veränderte das Internet und das Aufwachsen mit Computerspielen unser Verhältnis zum Text, Film, zur Sprache oder Auffassung von dem, was eine Figur heute ist oder repräsentiert, so passierte 2020 etwas sehr ungewöhnliches: Die temporäre und doch anhaltende Schließung aller Spielstätten bewirkte, dass die Theaterleute, nun, da der Vorhang nicht mehr hoch ging, ins Internet gingen und der digitale Raum erstmals zur vollwertigen neuen Spielstätte wurde.

Das radikalisierte die praktische und künstlerisch-experimentelle Auseinandersetzung mit den Realitäten dieser neuen, virtuellen, feedbackbasierten Räume. Schon seit Jahren haben jüngere Künstler*innen die analogen, biologischen Substanzen wie mit der Attitüde von Gamern betrachtet und verwendet und ganz neue Erfahrungswelten innerhalb der alten Spielmaschinen des Theaters installiert. Aber noch nie waren wir so gezwungen, uns mit den Neuerungen im technologischen Feld zu beschäftigen wie im Lockdown: Schlupfloch Internet. Plötzlich wurde klar, dass die Macht dieser digitalen Lebenswelt nie mehr verschwinden wird, sondern immer nur noch bedeutsamer wird, weil wir immer noch mehr Filme auf ihren Plattformen sehen, dort Daten sammeln, meetings abhalten und soziale Verbindungen eingehen. Alle starrten bis zum Überdruss auf diese Gangways raus ihren eigenen vier Wänden und in den Leitungsetagen der Theater wurde klar, dass die meisten Verantwortlichen seit Jahren alle Züge verschlafen haben, die in diese neue Zukunft führen.