«Nervöse Systeme»

Gespräch mit Hans-Dieter Schütt, 18. Februar 2019

Hans-Dieter Schütt (HDS): Thomas Oberender, in Ihrem Buch «Das schöne Fräulein Unbekannt - Gespräche über Theater, Kunst und Lebenszeit» mit Andrea Schurian reden Sie auch über Botho Strauß. Sie lasen seine Bücher nach dem Fall der Mauer, und als ehemaliger DDR-Bürger empfanden Sie speziell seine Stücke als «einführende Mentalitätskunde: So, wie die sind, werden wir werden.»

Thomas Oberender (TO): Das ist über zwanzig Jahre her, ja… Botho Strauß beschrieb Entwicklungen innerhalb der alten Bundesrepublik, die uns aus dem Osten, so mein Empfinden, noch bevorstanden. Es gibt eine Filmaufnahme vom jungen Botho Strauß, die ihn im Schaubühnen-Kreis zeigt, wie er als Dramaturg seine Fassung von Ibsens «Peer Gynt» erklärt - da hat man noch stark das Gefühl, einem Kommunarden zuzuhören, jemandem, der den radikalen Jargon der linken Kapitalismuskritik spricht, als wolle er morgen Barrikaden bauen. Wenig später war die Schaubühne dann der Ort, an dem eine neue Subjektivität entwickelt wurde, etwas, das dem Klassenkampf und seiner scheinbar objektiven Logik sehr distanziert gegenüber stand – Widerstand war jetzt etwas, das sich mit anderen Denk- und Daseinsweisen verband, wie wir sie aus der Antike kennen, der Renaissance, aus Russland, dem Surrealismus oder der Poesie. Klaus Michael Grüber oder der junge Robert Wilson haben eine radikal andere Welt eher poetisch verstanden. In Strauß’ journalistischen und essayistischen Texten, in denen er versuchte, wie er selbst sagte, das Politische und Ästhetische zusammenzudenken, widerspiegelte sich diese Entwicklung verblüffend präzise. Das Buch zeigt, wie politisch sein Denken blieb, aber die Empfindlichkeiten die Ebene wechseln – für ein Stück wie «Groß und Klein» beginnt das eigentliche Elend von materiellen Not aufwärts. Für das Drama dieser Figuren ist die Idee der 36 Gerechten wichtiger als Marx. 

HDS: Und das würde auch die Perspektive des DDR-Bürgers sein - bei seiner Verwandlung in einen Bundesbürger?

TO: Ich denke nicht, dass die Kunst nach 1989 einfach nur eine Nachholbewegung dieser Entwicklungen war, wie das Strauß immer wieder etwas verächtlich z.B. über das Theater von Frank Castorf gesagt hat. Aber gesellschaftlich gibt es Parallelen – denken wir nur an die Aufstände von 1989 und später in den 90ern z.B. an den Arbeiterprotest in Bischoferode. Plötzlich war sie wieder da, die harte Not, die Vernichtung ganzer Industrieregionen und danach kam Neo Rauchs neuen Surrealismus oder die subjektiven Tauchgänge in die historisch gewordene Provinz der DDR, wie sie von den Romanciers Ingo Schulze oder Uwe Tellkamp erkundet werden. Interessant übrigens, wie die alten Schauspiel- und Regie-, aber auch Malschulen des Ostens nach 1990 eine junge Künstlergeneration aus dem Westen prägten, die hier mit Realismus, Figürlichkeit oder unserem Brecht-Erbe konfrontiert wurden, ich denke z.B. an die Begegnungen von Thomas Ostermeier mit Einar Schleef und der Ernst-Busch Schule, oder an Tim Eitel, David Schnell oder Christoph Ruckhäberle von der Neuen Leipziger Schule. Diese Traditionen waren nicht so schnell abzureißen wie die Betriebe der DDR, denn die Mentalitäten reichen eben doch tiefer. Botho Strauß Arbeit wurde in den 80ern romantischer, mehr Konzeptkunst, und trotzdem schrieb er Stücke und Werke, um auf Ihre Frage zurückzukommen, die gleichzeitig auch im Westen nach einer Art von Wende Ausschau hielten – das stand als Zeichen an der Wand. Gewissermaßen als ein Zeichen an der Westberliner Mauer, die dann vom Osten niedergerissen worden ist.

HDS: Auch der Palast der Republik wurde niedergerissen. Symbolisch errichten Sie ihn im Haus der Berliner Festspiele für drei Tage neu, und es sprechen, wie Sie ankündigen, «die Veteranen mit der nächsten Generation über ein neues Land.» Im Palast stimmte die letzte DDR-Regierung am 23. August 1990 für den Einigungsvertrag.

TO: Der dann am 3. Oktober 1990 vom Bundestag beschlossen wurde. Seither wird offiziell dieser Einheitsvertrag gefeiert, was ja eine etwas trockene Angelegenheit war, und nicht die Revolution, die ihm vorausging. 

HDS: Revolution?