Ibou Couibaly Diop und Thomas Oberender

«Systemcheck – Vom Ende der Anthroposphäre»

 

Die bürgerliche Rahmung unserer Arbeit lockern

Thomas Oberender: «Systemcheck» empfinde ich als Motto auf zwei Ebenen interessant: Es geht bei unserem Gespräch über die Pandemie um das System unseres Kulturbetriebs und zugleich um die Systemfrage im Hinblick auf die Gesellschaft insgesamt. Wie geht es weiter mit dem Kapitalismus, wie mit dem Kunstbetrieb? Mein Arbeitsbereich ist tatsächlich in weiten Fel- dern recht experimentell, auch wenn er mit einer klassischen Kulturinstitution verbunden ist, die Formate hat, die zum Teil Jahrzehnte alt sind. Aber innerhalb der Formate ändert sich auf der Werkebene enorm viel und auch die Formate selbst verändern sich.

Ibou, du bist Kurator, du bist jemand, der Veranstaltungskonzepte entwickelt, aber auch über Institutionen und ihre Aufgaben nachdenkt. Welches der Statements zur Co- rona-Situation, die wir in der letzten Zeit von prominenten Personen gehört haben, hat dich am meisten bewegt? Gibt es da etwas, das bei dir eingehakt hat?

Ibou Coulibaly Diop: Für mich ist die Frage, wie diese Krise, diese so genannte Krise, Kulturinstitutionen verändern wird beziehungsweise welche Bedeutung sie für sie haben wird, zentral. Ich frage mich, ob es überhaupt eine Zeit nach Corona gibt. Ich glaube nicht, dass es sie geben wird. Die Frage, die wir uns alle stellen müssen ist, was wir eigentlich mit Corona machen beziehungsweise wie wir mit Corona leben. Welche Bedeutungen haben unsere Institutionen in Corona-Zeiten? Ich glaube, deine experimentelle Arbeit, die sich mit der Geschichte unterschiedlicher Gesellschaften beschäftigt hat, erhält in der Corona-Zeit eine Zuspitzung: Wie verändert sich unser Begriff von Kultur unter diesen Umständen und welche Formate schaffen wir, um diese Entwicklungen abzubilden? Heute in diesem Gespräch nutzen wir ein Medium, mit dem sich eine ganz andere Bedeutung von «Gesellschaft» verbindet. Wir sind zwar an einem Ort, wir sind in Berlin, aber wir sitzen nicht in einem gemeinsamen Raum. Trotzdem ist unsere Begegnung öffentlich. Wir sprechen persönlich miteinander, aber unter diesen Bedingungen ist das nicht privat. Welche Gesellschaft entsteht da gerade? Ich habe in diesen Tagen noch einmal einen Text von Roland Barthes gelesen. Hier heißt es: «Literatur sagt nicht, was ist, sondern sie sagt, was sein könnte. Literatur ist der Zeit voraus.»1 Wie können wir in Zeiten von Corona der Zeit voraus sein? Ich frage dich, Thomas, wie kann ich mir das Haus der Berliner Festspiele nach oder mit Corona vorstellen?

TO: Das fragen wir uns auch. Das Haus der Berliner Festspiele als ein Theaterhaus ist im Moment genauso geschlossen und unbetretbar wie alle anderen Theater in Deutsch- land. Wir leben in einer Zeit des Interims, in der Sendeformen entstehen, die nach allen möglichen Alternativen suchen – Leute musizieren auf ihren Balkons für Nachbar*innen und Passant*innen, tanzen auf der leeren Straße, es entwickelt sich gerade die Idee eines Theaters, das in Mikroformaten stattfindet, mit sehr kleinen, überschaubaren Aufwänden und Besucher*innenzahlen, jenseits der großen Säle. Zugleich experimentieren Theater- leute mit den szenischen Möglichkeiten des digitalen Raums. Wobei ich denke, dass das Internet und die digitale Kultur längst in die analoge Theaterwelt und ihre Rituale ein- gedrungen sind und zwar, indem sie unsere Auffassung von dem, was wir «Realität» und «Figuren» nennen, völlig verändert haben und dazu geführt haben, dass wir rhizomatische, die Anwesenheit des Publikums einbeziehende Erzählformen im Theater ausprobieren. Mit der Postinternet-Generation, die von Computerspielen, YouTube und sozialen Netz- werke erzogen wurde, entstand eine Produzent*innen- und Rezipient*innengeneration, die von dem Bedürfnis nach Feedback geprägt ist, von dem Bedürfnis nach Simultanität, nach Echtzeit, nach Dingen, die offen bleiben.